Tagebuch: Norvid Runeson
Datum: Januar 1881
Ort: Upsala
Abreise
Mit der Bahn nach Stockholm, dann mit der Kutsche zum Hafen. Dort gehen wir an Bord der Miss Paulina, einem Eisbrecher. Kapitän Harrock – zwei Meter groß – begrüßt uns.
Die Überfahrt nach Sankt Petersburg dauert einige Tage. Unser Eindruck vom Kapitän bleibt zwiespältig, ohne dass wir es genau benennen könnten. Wir erhalten eigene Zeiten für die Kombüse, um nicht mit der Mannschaft essen zu müssen.
Die See ist rauer als bei der Fahrt nach Ahrensburg. Einige von uns werden seekrank. Clara fällt auf, dass die Mannschaft Brei und andere Dinge in Ecken auf das Deck stellt. Sie meint auch, kurz einen Klabautermann gesehen zu haben – wichtelgroß.
Das Schiff bricht sich durch das Eis im Finnischen Meerbusen. Schließlich erreichen wir Sankt Petersburg.
Die Kutschfahrt beginnt
Eine riesige Kutsche wartet bereits auf uns. Der Kutscher stellt sich als Ilja Ermakov vor. Er ist für unsere Weiterreise verantwortlich und achtet darauf, dass wir warme Kleidung dabeihaben – es könne unterwegs bis zu -20 Grad kalt werden.
Die Kutsche ist mit Rädern und kleinen Kufen ausgestattet. Als wir an Bord sind, beginnt es zu schneien. Da wir in Sankt Petersburg noch eine weitere Mitreisende aufnehmen, muss einer von uns auf dem Kutschbock Platz nehmen. Bengt setzt sich neben Ilja.
In der Stadt wartet bereits Vilma af’Zimt auf uns. Linda fällt auf, dass Vilma Gegenstände mit sich führt, die nach Wahrsagerei aussehen.
Der Schneefall nimmt zu. Die Kutschfahrt ist holprig. Gegen Mittag hören wir das Heulen von Wölfen – ein Rudel Winterwölfe begleitet die Kutsche eine Zeit lang.
Vilma erzählt, dass Reisen in diese Region stets spannend seien. Sie ist zum ersten Mal auf der Veranstaltung eingeladen. Ihr Vater hingegen war schon häufiger beim Grafen. Ihr Vater war ein Freund von Professor Albert Wredenhielm – jenem Gelehrten der Gesellschaft, der vor fünfzig Jahren spurlos verschwand.
Vilmas Vater lebt noch. General Peter af’Zimt – Philosoph, einst in Versailles, wo er auch einen Meister des Schattentheaters traf. Möglicherweise Oscar Hjort?
Vilma erkundigt sich nach Madame Laukonen. Diese soll schon zu Zeiten ihres Vaters genauso ausgesehen haben wie heute. Ihre Familie sei seit langem mit jener des Grafen verbunden.
Nicht alle Gäste auf der Veranstaltung hätten den Blick – doch die Existenz der Wesen sei allen bekannt. Auch die britischen Campbell-Brüder werden erwartet – berühmte Geister- und Monsterjäger.
Vilma ist Madame Laukonen dankbar für deren Unterstützung während ihrer Ausbildung. Sie selbst hat Linnea Elfeklint nie getroffen – während ihres Aufenthalts in Upsala befand diese sich in der Nervenheilanstalt.
Der Schneefall wird dichter.
Der Unfall
Ein lauter Knall. Die Kutsche hebt ab, überschlägt sich. Ich werde aus dem Wagen geschleudert. Auch Bengt und Ilja liegen im Schnee. Schmerz durchfährt mich.
Als ich mich aufzurichten versuche, sehe ich sie: Eine Frau in Weiß – mit einem Hirschgeweih. Ein Wimpernschlag – sie ist verschwunden.
Der dichte Schneefall raubt uns die Sicht. In der Ferne heult ein Wolfsrudel. Ilja ruft: Wir müssen sofort weiter. Warme Kleidung anziehen. Die meisten unserer Sachen und Ausrüstungsgegenstände müssen wir zurücklassen.
Wir kämpfen uns durch die schneidende Kälte. Knietief waten wir durch den Schnee. Der Kutscher sagt, es sei noch etwa eine Stunde Fußweg bis zu einem Gasthaus. Es ist dunkel. Der Weg zieht sich wie eine Ewigkeit.
Ankunft im Gasthaus
Endlich erreichen wir den Gasthof. Aus starkem Schneefall ist ein Schneesturm geworden. Ilja bringt die Pferde in den Stall. Wir treten in die Gaststube ein.
Dort begegnen wir: dem Wirt Axel Trygg, der Köchin Riina Soovere und ihren Kindern, der Kellnerin Krööt und dem Knecht Imre, der eilig in den Stall läuft. Dazu der alten Runensängerin Karin Karaskeva sowie den Campbell-Brüdern: Samuel und Daniel.
Axel ist überrascht, dass Ilja einen Unfall hatte. Er bringt uns in Zimmer im Obergeschoss. Ilja kommt wenig später in die Gaststube, setzt sich an den Kamin, starrt ins Feuer – und trinkt ein Bier nach dem anderen.
Geschichten am Feuer
Axel berichtet: seine Familie – die Trygg– zog vor zweihundert Jahren aus Falun, einem Dorf bei Upsala, hierher und gründete den Gasthof. Sein Traum: eine Erweiterung des Hauses, vielleicht ein Kasino.
Seine Vorfahren brachten einen Birkenrindenschuh und eine Eichel mit. Die Eichel vergruben sie. Heute steht eine Eiche daraus bei der Sauna neben dem Gasthaus.
Clara spricht mit Ilja. Er sagt ihr, dass nun seine Zeit gekommen sei – Morozko werde ihn holen. Als er den Namen ausspricht, verlischt das Feuer schlagartig. Kälte breitet sich aus. Wir entfachen es rasch neu. Eine rationale Erklärung gibt es nicht. Die Campbell-Brüder beobachten aufmerksam.
Alle versammeln sich am Kamin. Eine struppige graue Katze taucht auf – und verschwindet ebenso schnell. Axel schlägt vor, Geschichten zu erzählen – eine alte Tradition. Der Sturm draußen tobt weiter.
Vilma beginnt:
„Seit meinem elften Geburtstag kann ich Geister sehen. Vor einem Jahr war ich in Sigtuna bei der Beerdigung meiner Nichte. Man hatte einen leeren Sarg beerdigt… Pfarrer Niels Klarhed (Hexenkatze)“
Sie berichtet von einem Traum, der sie zu einer Hütte im Wald führte. Dort sah sie Alva – ihre Nichte – bei einem Brunnen stehen. In eben diesem Brunnen wurde später ihre Leiche gefunden.
Ilja hebt seinen Krug. Dann erzählt er:
„In einem Dorf in der Nähe wurde die Stieftochter ausgesetzt – zum Sterben. Väterchen Frost, Morozko, begegnete ihr. Weil sie freundlich war, beschenkte er sie. Die leibliche Tochter jedoch, voller Gier, wurde ebenfalls ausgesetzt. Doch sie war unfreundlich. Morozko ließ sie erfrieren.“
Ein Raunen geht durch die Runde. Das Feuer knistert. Axel – der Wirt – fragt, ob einer von uns eine Geschichte erzählen möchte. Linda berichtet von der Schneekugel, die Menschen in eine kalte, fremde Welt zieht.
Dann spricht Samuel Campbell.
„Wir untersuchten eine Mordserie. Immer wieder wurden Kutschen überfallen. Ein Rachegeist – die Seele einer betrogenen Frau. Ihr Bräutigam hatte sie ermordet. Wir fanden sie. Eine Wiedergängerin Die Frau in Weiß. Und wir zerstörten ihren Geist.“
Die Runensängerin erhebt sich. Sie singt ein Lied, in einer Sprache, die keiner von uns versteht.
Nach dem Lied erklärt sie:
Es handelt von einem Domovoi, der ein Pferd nicht mochte. Er verwandelte sich in ein Wiesel und störte es ständig. Der Besitzer brachte schließlich Glocken am Zaumzeug an – und der Dumovoi, ein Hauswichtel, ließ von dem Tier ab.
Axel erzählt nun von seiner Schwester Ester Trygg. Als Kind habe sie mit unsichtbaren Freunden gesprochen. Die Campbell-Brüder und wir tauschen uns aus. Sie vermuten, dass sich ein Wiedergänger im Gasthof aufhält.
Vilma sagt, sie freue sich, uns kennenzulernen – trotz der widrigen Umstände.
Ida wendet sich an Ilja. Ihr ist eine gewisse Spannung zwischen ihm und dem Wirt aufgefallen. Ilja gibt zu: Er wollte Ester, Axels Schwester, heiraten – und mit ihr nach Sankt Petersburg gehen. Doch Axel hielt ihn für nicht gut genug.
Unruhe in der Nacht
Wir gehen zu den Zimmern. Beim Aufstieg stolpert Linda. Dann – plötzlich – Unruhe im Stall. Die Pferde wiehern und schlagen aus. Wir stürzen nach draußen. Es ist bitterkalt.
Ein Pferd läuft panisch aus dem Stall, ein weiteres steht bereits draußen. Ilja liegt verletzt im Stall – er wollte nur noch einmal nach den Tieren sehen, bevor er schlafen geht.
Clara, Ida und Linda gelingt es, beide Pferde wieder einzufangen. Clara, außerhalb des Hofes, sieht eine Gestalt im Schneesturm – mit Geweih. Dann verschwindet sie.
Wir bringen Ilja zurück in die Stube, legen ihn an den Kamin und versorgen seine Platzwunde. Das Feuer, wieder erloschen. Wir entfachen es erneut. Axel kommt hinzu. Er wirkt erschrocken.
Linda und Clara beschließen, am Kamin zu wachen. Sie wollen das Feuer nicht mehr unbeaufsichtigt lassen. Linda zieht ihre Strohmatratze nach unten – auf der Treppe reißt sie.
Clara geht in die Küche, um sich noch etwas zu essen zu holen. Als sie einen Schrank öffnet, springt ihr die graue Katze entgegen – und ist im nächsten Moment verschwunden.
Später hört Linda oben das Splittern von Glas – dann ein Knistern. Sie rennt die Treppe hinauf. Eine der Öllampen ist zu Boden gefallen und hat den Boden in Brand gesetzt. Clara und Linda löschen das Feuer.
Währenddessen hat Ida an ihrem Fenster etwas vorbeischweben sehen. Durch eine Lücke im Fensterladen. Das Glas ist stärker vereist als zuvor. Ida weckt die Campbell-Brüder. Ihre knappe Reaktion: „Weckt uns, wenn es im Gasthof ist.“
Ich wache ebenfalls auf. Ich meine, eine tiefe Stimme gehört zu haben, die den Namen „Ester“ ruft. Ich gehe nachsehen. Linda sammelt gerade die Scherben der Lampe auf. Der Fensterladen klappert. Ich blicke hinaus. In Richtung der Kapelle – dort, wo sich auch der Familienfriedhof befindet – sehe ich eine geisterhafte Gestalt.
Gaben und Gerüchte
Clara sucht in der Küche nach Gaben für Haus- und Schutzgeister. Sie stellt eine Schüssel mit Speisen neben die Treppe. Wir bekommen keinen rechten Schlaf. Der Sturm wird heftiger. Immer wieder erlischt das Feuer im Kamin.
Am Morgen stellt Clara fest, dass die Kekse verschwunden sind. Sie spricht mit Krööt. Diese sagt, sie habe sie weggeräumt. Ester habe früher Gaben für Hausgeister aufgestellt. Ihre Mutter ebenfalls.
Krööt erzählt weiter: Der Arzt habe bei Ester einen Schlaganfall diagnostiziert. Man fand sie am See. Zunächst glaubte man, sie sei ertrunken – doch jemand hatte sie an Land gezogen. Auch ihre Mutter und Großmutter sollen an Schlaganfällen gestorben sein.
Ester hatte Iljas Heiratsantrag abgelehnt. Ihr Zimmer ist seit ihrem Tod unberührt. Krööt meint, Ester habe ein Tagebuch geführt.
Seit ihrem Tod häufen sich merkwürdige Ereignisse im Gasthof: Gegenstände fallen herunter. Menschen stolpern. Seltsame Geräusche. Clara teilt uns diese neuen Erkenntnisse mit.
Das Brennholz verschwindet
Ein Schrei. Axel – der Wirt. Wir eilen hinaus. Das gesamte Brennholz ist plötzlich verschwunden. Wir beraten, was zu tun ist. Vilma schlägt eine Séance vor – doch sie braucht ihre Tarotkarten. Sie befinden sich noch in der verunglückten Kutsche. Der Sturm hat sich inzwischen etwas gelegt.
Linda spricht Axel auf den Tod seiner Schwester an. Ida unterstützt sie. Axel fragt sich, wer Ester aus dem Wasser gezogen hat – und ob es wirklich ein Unfall war. Vielleicht… vielleicht hat Ilja ihren Korb nicht verwunden.
Axel macht sich auf den Weg, um Brennholz zu suchen. Sunna und ich begleiten ihn. Linda und Clara planen, während Axels Abwesenheit in Esters Zimmer einzudringen – in der Hoffnung, ihr Tagebuch zu finden. Zur Kutsche brechen Ilja, Bengt und Ida auf.