Winter in Diestelfeste
Wir berichteten Meisterin Eufrynda ausführlich vom Scheitern der Expedition ihrer Ordensmitglieder, aber verschwiegen unsere Begegnungen und Verwicklungen mit den uralten Mächten im und um das Grabmal. Einige Tage danach wurde Tribor Zeuge, wie der Kapitelmeister Cornelio die Meisterin zurechtwies, denn es war verboten gewesen, die Gruft zu erkunden. Kurz vor Wintereinbruch quartierte sich Meister Kullinan Furia im Ordenshaus ein, und es wurde gemunkelt, dass er wegen der Expedition Ermittlungen anstellte.
Herogai kam im Tempel Prios unter, um sich die Korruption ausbrennen zu lassen. Er lernte Pater Elfenor und den Prior kennen. Ab und an kam Pater Sarvola zu ihm – ein Abweichler, der von einem barmherzigen Prios predigte. Auch lebte hier die alte Priesterin Deseba, die einst vom Ersten Vater Jesebegai zur Lichtbringerin ernannt worden war, nachdem sie die Königin und ihn von der Korruption geheilt hatte. Im Frühjahr durchlief er ettliche Läuterungen, die ihn äußerlich entstellten, aber für sein Seelenheil war gesorgt.
Lysandra, eine junge Frau und laut eigenen Angaben ehemalige Schatzsucherin, verführte Ianoscho, als dieser einen langen Winterabend in einer Taverne verbrachte. Als sie in der Frühe seine Schlafstätte verließ, sah er im Halbschlaf, dass sie einen eisernen Armreif trug. Niemand konnte ihm mehr über sie verraten, denn niemand kannte sie.
Ich hatte meine kleine Kammer im Haus meines Freundes, dem Händler Edogai, im Zentrum von Diestelfeste und hatte es gut.
16. April 22
Am Vormittag trafen wir uns im Gasthaus Zum Farn mit einer Frau, die sich als Anadea vorstellte und ihrem Äußerem nach Anfang 30 war. Sie machte vage Andeutungen, dass sich in den nächsten fünf Tagen etwas schlimmes in Diestelfeste ereignen würde. Sie bot uns ein Salär von fünf Talern täglich, falls wir für sie arbeiteten, und weitere 15, wenn wir die Gefahr abwendeten. Noch bevor wir den Handel eingehen konnten, läutete die Alarmglocke vom Nordturm. Mehr zu sich selbst sagte sie “Die Elfen”. Wir fragten nicht nach, was sie damit meinte, und eilten hinaus.
Vor dem geschlossenen Nordtor hatte sich bereits eine größere Menge Schaulustiger versammelt. Wir erblickten Hauptmann Marvello, der uns zu sich rief, und mit uns auf einen Wehrturm stieg. Aus dem Davokar kamen zwei haushohe Kreaturen, die aus Ranken zu bestehen schienen, bis auf 50 Schritt an die Palisade heran. Auf jeder stand ein Reiter.
Der Hauptmann ging mit uns, einem Barbaren und einigen Bütteln auf sie zu. Beide verbargen ihre Gesichter hinter Holzmasken. Zur Linken war ein Mann, der in Felle gehüllt war, und zur Rechten eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die unserer Eulenfrau ähnelte. Der Barbar übersetzte, was der Mann sagte. Dieser stellte sie als Gadramon und Eferneya vor, und sie waren Gesandte der Huldra von Karvosti. Er sprach von einer mächtigen Quelle der Korruption, die in Diestelfeste wäre, und bat um Einlass in die Stadt. Auch fragte er, ob der Brunnen bereits gesprochen hat.
Marvello musste erst die Erlaubnis der Bürgermeisters einholen, bevor er dem Gesuch statt geben konnte, und so zogen sich die Gesandten zu ihrem Lager am Waldrand zurück. Zurück auf dem Krötenplatz ertönte ein schreckliches Brüllen von dem Brunnen, auf dem das versteinerte Skelett dieser Riesenkröte stand. Der Schrei war so gewaltig, dass Leute neben dem Brunnen tot umfielen. Gleich danach vernahmen wir aus Richtung der Stadtmitte ein Beben und hörten, wie Gebäude einstürzten. Ein Staubwolke bildete sich über dem Ort und breitete sich aus.
Wir rannten zum Unglückort. Aber auf den Straßen griffen Ausgeburten die Überlebenden an. Wir halfen, zwei Großeltern mit ihren Enkeln und dem Händler Erlaber zu entkommen, und erschlugen ihre Angreifer. Die Kämpfe schienen sich hinzuziehen, so dass Herogai sich rüsten wollte, und wir ihn zur Kirche begleiteten.
Als wir eine halbe Stunde später zurückkehrten, waren die Kämpfe abgeflaut, und wir konnten bis an den Rand eines 80 Schritt durchmessenden Kraters herantretn. Die Gaststätte Zum Farn war mit dutzenden anderen Häusern hineingestürzt. Von Anadea gab es keine Spur. Auf der anderen Seite begutachteten die Meister Eufrynda und Kullinan die Lage. Während man begann Barrikaden zu errichten, schlugen die Ungeheuer erneut zu und kamen in Scharen aus dem Krater. Es waren verwandelte Menschen, die oft einen Koloss begleiteten, der wie eine wahre Ausgeburt wirkte.
Nachdem diese Welle abgewehrt worden war, erblickten wir Hauptmann Marvello und Bürgermeister Nachtschwarz auf der anderen Seite des Kraters, dessen Grund im Dunst verborgen blieb. Doch auf einmal hatten wir die Geschöpfe in unserem Rücken, denn sie hatten sich einen Weg durch den Keller eines noch stehenden Hauses gebahnt. Meister Tribor sicherte mit seiner Magie unser Rückzug, aber danach bedurfte er einer Pause – und so auch ich.
Wir halfen den Nachmittag über im Lazarett, während sich Herogai und Ianoscho dem Gegenangriff der Verteidiger anschlossen. Dieser erforderte noch etliche Opfer, war aber letztendlich von Erfolg gekrönt. Als Ianoscho und Herogai bei Einbruch der Dämmerung am Kraterrand standen, hörten sie, wie sich unter ihnen ein großes Wesen bewegte. Unvermittelt erschien eine menschenähnliche Frau mit Schuppenhaut und einem Paar ledriger Schwingen auf einem Schutthügel. Sie schrie die überraschten Kämpfer an, erhob sich in die Lüfte und flog in den Krater hinein.