Jetzt waren wir doch mit dem Automobil in der Einöde von Neu England liegen geblieben. Dabei hatte mir Tommy Stone versichert, dass sein 1920er Ford in bestem Zustand sei. Ich hatte lange überlegt, ob ich ihn mit dabei haben wollte. Seit der Sache mit der versteinerten Fee zweifelte ich ein wenig an seiner Zurechnungsfähigkeit, aber eigentlich war Tommy eine ehrliche Haut und hatte über seine Detektei für meine Zeitungsartikel schon die eine oder andere erfolgreiche Nachforschung angestellt. Das Dorf, zu dem Denton Osborn Brumley und ich, Nash Anderson, gelangen wollten, lag so abseits, dass kein Zug und keine Omnibuslinie dort halt machten. Wenn wir nicht mit einem Pferdefuhrwerk oder zu Fuß reisen wollten, gab es zu dem Automobil keine Alternative. Doch jetzt war die Achse gebrochen, es war sicher noch eine Stunde Fußmarsch bis zum Dorf und die Herbstsonne senkte sich bereits zum Horizont herab. Über ein paar karge Felder sahen wir nördlich der Straße eine Farm, allerdings wirkte sie verlassen. Nirgendwo waren Lichter entzündet, und aus dem Kamin kam kein Rauch. Wir beschlossen dennoch, uns dort einmal umzusehen. Vielleicht hatten wir ja Glück.
Neben dem Haupthaus gab es noch eine Scheune und einen Wasserturm. Man hörte das quietschen einer Schaukel im Wind. Auf der Veranda lag ein fetter Kater, der uns mit seinen grünen Augen musterte, aber schnell sein Interesse verlor und davon stolzierte. Vorne konnte man durch die Fenster in eine Wohnstube blicken. Wir klopften, doch niemand reagierte darauf. Tommy versuchte es weiter an der Tür, während Denton zur Scheune ging und ich das Haus umrundete, um nach einem Hintereingang Ausschau zu halten. Tatsächlich fand ich eine Tür zur Küche unverschlossen vor. Durch rufen machte ich mich bemerkbar. Als niemand reagierte, betrat ich das Haus. Alles wirkte verlassen, aber nirgendwo lag eine dicke Staubschicht. Vielmehr wirkte es so, als wäre das Gehöft bis vor kurzem bewohnt gewesen. Ich ging von hinten nach vorne durch und entriegelte die Eingangstür. Tommy und ich wollten gerade die anderen Räume in Augenschein nehmen, als wir Denton schreien hörten. Wir sahen ihn aus der Scheune laufen. Er drückte das Tor zu und versuchte es zu verschließen.
“Ich habe drinnen Schritte gehört!”
Denton schwitzte etwas. Er versuchte zu flüstern, doch dabei überschlug sich seine Stimme immer wieder.
“Da drinnen ist es völlig finster, aber irgendwer ist auf dem Heuboden.”
Tommy zog seinen Revolver, während ich nach meiner Kamera fingerte und ein Blitzlicht aufschraubte. Wir holten noch eine Öllampe aus der Küche und entzündeten sie. Dann betraten wir gemeinsam die Scheune. Die Schritte waren nicht mehr zu hören, dafür aber ein stetes Tropfen. Der Geruch von Eisen lag in der Luft. Als Denton nach oben leuchtete, viel mir fast die Kamera aus der Hand. Uns stockte der Atem. An einem Seil baumelte aus der Dachluke ein Körper, von dem noch zähe Blutfäden herabtropften. Wer das mal war, war nicht zu sagen, denn der Körper war komplett gehäutet.
Vorsichtig erklomm Tommy die Leiter. Wir folgten ihm. Ich versuchte nicht zu der Leiche zu blicken, die sich nur eine Armlänge entfernt langsam an dem knarzenden Seil drehte. Oben lagen Heuballen aufgeschichtet. Wir sahen sofort die noch frische Schleifspur, die von der Luke weg hinter dem Heu verschwand. Tommy folgte ihr, den Revolver schussbereit, als hinter den Ballen eine Gestalt hervor gewankt kam. Sie trug eine abgenutzte Südstaatenuniform aus dem Sezessionskrieg, ihre Haut war ledrig vertrocknet und spannte sich über die Knochen. In ihren Händen hielt sie eine Sense, die sie nun zum Schlag erhob. Tommy schoss sofort, während ich die Kamera hoch riss, um diesen Albtraum auf einem Foto festzuhalten. Im Kugelhagel brach das Ungetüm zusammen und rührte sich nicht mehr. Langsam näherten wir uns und betrachteten den Mann aus der Nähe. Was war das? Die Gestalt war buchstäblich nur Haut und Knochen. Sie wirkte mumifiziert, war aber warm. Um den Mund war frisches Blut zu sehen. Mir drehte sich der Magen um.
“Wir müssen die Polizei rufen!”
Aber noch während ich das sagte, viel mir auf, wie verrückt das klang. Vor uns lag ein ausgedörrter Soldat aus dem Sezessionskrieg, hinter uns hing eine frisch gehäutete Leiche. Außer uns war seit einiger Zeit niemand mehr auf dem Hof gewesen.
Als wir der Blutspur weiter folgten, fanden wir die Stelle, wo der Tote so zugerichtet worden war, außerdem noch ein paar Gegenstände, die von ihm stammten: Kleidung, einen Wanderrucksack, eine Wasserflasche und ein paar Butterbrote. Der arme Tropf schien hier in der Scheune Unterschlupf für die Nacht gesucht zu haben. Wer er genau war, fanden wir nicht heraus, allerdings befand sich in einer der Taschen seiner Kleidung ein Schnupftuch mit den Initialen “R.B.”.
Ich machte noch zwei, drei weitere Fotos von den Szenerie und dem aufgehangenen Körper, als Tommy durch ein Dachfenster in der Ferne Fackeln und eine Menschenmenge ausmachte, die sich dem Hof näherten. Bein genauerem hinsehen trugen die Leute Südstaatleruniformen. Wir bezweifelten alle, dass es sich dabei um eine Real Enactment Group handelte und liefen rasch zum Automobil zurück. Mittlerweile war es dunkel, und wir versteckten uns hinter dem Wagen, um zu beobachten, wer diese Männer waren. Zu unserem Entsetzen sahen alle Soldaten genauso ausgedörrt aus, wie die Abscheulichkeit in der Scheune. Denton viel auf, dass der von uns niedergeschossene vermutlich zu der Einheit gehörte, denn beim durchzählen fehlte den Soldaten auf dem Hof genau einer zur Sollstärke.
Kurz darauf näherten sich zwei Soldaten unserem Automobil. Sie hatten ihre Gewehre im Anschlag und Bajonette aufgesteckt. Ich trat hinter dem Wagen halb hervor und schwenkte mein weißes Taschentuch, in der Hoffnung, mit ihnen verhandeln zu können. Einer der Soldaten rief mir mit heiserer Stimme entgegen: “Parole!”
“Wir sind nur Wanderer – lasst uns reden.”
“Was treiben Wanderer des Nachts auf weiter Flur?”
Der Soldat sprach geschwollen daher, mit altertümlichem Akzent.
“Wir haben einen Schaden an der, äh…, Kutsche. Die Achse ist gebrochen.”
Ich trat jetzt ganz hinter dem Wagen hervor.
“Wollt ihr bei uns im Lager bleiben?”
Nein, das Wollten wir auf keinem Fall!
“Danke, aber man erwartet uns im Dorf.”
“Seid ihr Boten?”
“Nein. Äh, Händler…, sind Geschäftsleute die mit Stoffen handeln. Wir kommen schon etwas spät.”
Während die Südstaatler mit uns redeten, kamen sie langsam immer näher. Jetzt sahen wir in ihren Gesichtern, wie sie uns gierig musterten. Sie schienen sehr hungrig zu sein. Voller Panik nahmen wir die Beine in die Hand und flohen auf der Straße in Richtung Dorf. Zunächst folgte uns niemand, doch dann hörten wir Pferde hinter uns. Wir schafften es gerade noch, uns im Wald zu verstecken, als zwei Reiter an uns vorbei jagten. Eine Stunde marschierten wir durch die Nacht, immer auf der Hut vor Verfolgern, bis wir über eine Hügelkuppe kamen und vor uns unser Ziel sahen. Doch dieser Ort hatte keinesfalls die Einwohnerzahl des Dorfs, zu dem wir unterwegs waren. Er wirkte viel, viel kleiner. Es kam uns so vor, als wären wir in der Zeit zurück gereist. Keiner von uns verspürte große Lust, sich in der Nacht in dem Ort um zu schauen. Also beschlossen wir, etwas abseits der Straße, die hier auch nur noch ein besserer Feldweg war, im Wald eine Rast bis zum Morgen zu machen.
Tatsächlich hatten wir alle ein wenig geschlafen, als es zu dämmern begann. Wir kehrten zum Weg zurück, und uns fiel ein Stein vom Herzen, denn alles schien wieder seine Ordnung zu haben. Aus dem Pfad war wieder eine asphaltierte Straße geworden, und vor uns im Tal lag ein kleines Städtchen von vielleicht zweitausend Einwohnern, genau so, wie wir es erwartet hätten. Immer noch verwirrt, aber etwas erleichtert machten wir uns auf den Weg in den Ort.
Danke an Markus für die Notizen zum Spielabend.