Nymians Tränen 2 – Ein Opfer für die Wälder

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Samstag, der 28. Tag des VI. Monats im Jahre 888 nG
„Hilfe! Ist da jemand? Helft mir, bitte!“
Es war eine helle Kinderstimme, verängstigt und zitternd, die aus den Aveltener Apfelwiesen durch die Abenddämmerung zu uns herüberwehte.
Rasch wechselten wir ein paar Blicke, dann waren wir uns sofort einig. Entschlossen verließen wir die Landstraße, die von Kreutzing über Avelten nach Pfeilersruh führt, und drangen in den Hain vor. Erneut hörten wir den kläglichen, verzweifelten Hilferuf eines Kindes. Nach etwa 20 Schritten öffnete sich der Apfelhain zu einer kleinen Lichtung.
Jenseits der Lichtung erhob sich ein tiefer Laubwald, in dessen Wipfeln der Abendwind flüsterte. Ein Überbleibsel jenes geheimnisvollen Urwaldes, der diesen Teil der Nördlichen Weite bedeckte, bevor Menschen das Land urbar machten.
Vor uns auf der kleinen Lichtung erwartete uns ein Anblick, der uns mit Fassungslosigkeit und etwas Wut erfüllte. An einem Holzkreuz festgebunden hing ein zitternder Junge von vielleicht acht Jahren. Aus verweinten Augen sah er zu uns herüber und flehte uns um Hilfe an.
Auf Wilburs Frage, wer ihn dort festgebunden und zurückgelassen hatte, sagte der Junge, dass Männer mit Kapuzen ihm das angetan hätten. Er solle ein Opfer für die Waldgeister werden. Der Halbling und ich machten uns daran, die Fesseln des Knaben zu durchtrennen. Wilbur löste die Knoten an den Füßen, ich nahm mir die Stricke vor, die seine Arme und Hände fesselten.
Da fielen Melina plötzlich Bewegungen im düsteren Unterholz des Waldes auf.
Sechs Kinder pirschten aus dem Dickicht auf uns zu. Sie trugen zerschlissene Kleidung von Bauernkindern, in ihren Händen hielten sie scharfe Erntesicheln aus Kupfer.
Am meisten Sorgen bereiteten mir aber ihre Augen, die in der Dämmerung glühten wie Kerzenflammen. „Er gehört uns! Verschwindet, solange ihr noch könnt!“, stießen die Mädchen und Jungen mit fauchenden Stimmen hervor.
Was war nur mit diesen Kinder los? Waren sie wirklich Waldgeister, die nur wie Kinder aussahen? Standen sie unser einem Zauberbann oder waren sie gar wie Kandess Dreen von einem Dämon besessen? Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Die Bande stellte sich in einem Halbkreis vor uns auf und bedrohte uns weiterhin. Wir aber waren fest entschlossen, den gefesselten Knaben zu verteidigen.
Melina gab einen Warnschuss mit ihrer Schleuder ab. Dies war für die sechs Kinder das Zeichen zum Angriff. Wilbur ließ sich eine Eichenhaut wachsen und rief noch:
„Beschützt den Jungen!“
Krätze schwang seinen zaubermächtigen Löffel und aus dem Nichts manifestierten sich Eisendornen in der Luft, die zwischen den Kindern zu Boden sanken. Melina traf einen der angreifenden Jungen mit der Schleuder am Kopf, während ich mein Schwert zog.
Es gelang den Kindern, sich aus dem Feld mit den eisernen Krähenfüßen herauszubewegen und in den Nahkampf überzugehen. Die Wesen erwiesen sich als äußerst flinke Gegner und ihre Kupfersicheln waren so scharf wie Rasierklingen, wie ich selbst schmerzvoll feststellen durfte. Zu Beginn des Kampfes war ich noch etwas gehemmt, mit einem Schwert auf die Kindergestalten einzuschlagen. Doch es wurde schnell klar, dass diese Geschöpfe allenfalls wie Menschenkinder aussahen, aber beileibe keine waren. Ohne ein Zeichen von Furcht oder Zögerlichkeit griffen sie meine Gefährten und mich an. Schon sehen wir uns ein einem ernsthaften Kampf mit den Kreaturen verstrickt.

Melina schlug ihrem Gegner einen Arm ab, worauf er mit einem wütenden Quieken auf seinen rot blutenden Stumpf blickte, doch nicht zusammenbrach. Auch eines der beiden Wesen, die mich angriffen, ließen sich von den Schwerthieben, die es einstecken musste, nicht von weiteren Angriffen abhalten. Krätze beschwörte seine schwebende Armbrust herauf und tötete das Wesen, dem Melina den Arm abgetrennt hatte, mit einem Bolzen-schuss. Im Tode verwandelte sich die Kindergestalt in einen zerfetzten Körper aus Holz, Ranken und Blattwerk. Das eben noch rote Blut wurde zu einer grünlichen Flüssigkeit.
Bei den vermeintlichen Kindern handelte es sich also um Wechselbälger.
Auch die Gestalt meines Gegners deformierte sich nach dem zweiten Schwerstreich, doch noch hielt sich der Wechselbalg auf den Beinen. Wilbur gelang es hingegen, seinen verwundeten Angreifer in die Eisendornen zu treiben, wo er verendete und seine wahre Gestalt annahm. Melina erschlug einen Wechselbalg mit ihrem Säbel, Krätzes Armbrust tötete ein weiteres der Wesen.
Wilbur versuchte, die zwei überlebenden Wechselbälger dazu zu überreden, den Angriff abzubrechen. Doch vergebens. Die Wesen forderten weiterhin den Menschenjungen und wir waren nicht bereit, das Kind den Wechselbälgern zu überlassen.
Wilbur zog seine Pistole und stellte sich zwischen uns und die beiden noch lebenden Angreifer. Erneut versuchten Wilbur und Melina, die Situation zu entschärften, den zwei letzten Wechselbälgern die Ausweglosigkeit ihres Vorhabens vor Augen zu führen.
Der Junge hatte es zwischenzeitlich geschafft, seine Fesseln abzustreifen und suchte Schutz hinter Krätze. Der Wechselbalg, den ich verwundet hatte, schwankte und stolperte in die Eisendornen. Sterbend brach er zusammen. Seinem Gefährten gelang es hingegen doch, sich in Richtung des Waldsaumes zurückzuziehen. Aus Krätzes Armbrust löste sich ein letzter Schuss, der den Wechselbalg jedoch verfehlte.
„Lasst das!“, schnauzte Wilbur aufgebracht.
So gelang es dem letzten Wechselbalg fauchend in den Wald zu fliehen.

Nachdem wir alle kurz durchgeatmet hatten, versuchen wir aus dem verängstigen Jungen herauszubekommen, wie er in dieser Nacht hierher gekommen war.
Der Junge, sein Name war Pell, stammte aus Avelten, wo er mit seiner Mutter lebte.
Gemeinsam hatten sie das Haus für das Mittsommerfest geschmückt. Danach sei die Mutter noch mal fortgegangen, um etwas im Dorf zu besorgen.
Doch dann seien Männer in ihr Haus eingedrungen, die Gesichter durch Kapuzen und Tücher maskiert. Sie fingen Pell und banden ihn hier draußen ans das Kreuz als ein Opfer für die Waldgeister. Wilbur versprach Pell, dass wir auf ihn aufpassen würden, bis wir ihn zu seiner Mutter zurückgebracht hätten. Melina nahm sich des Jungen an, zu der er recht schnell ein wenig Vertrauen fasste. Wilbur versorgte unsere Kampfverletzungen mit Heilmagie, dann machte er sich auf den Weg nach Avelten. Er wollte die Lage im Dorf auskundschaften und wenn möglich eine Schaufel besorgen, um die toten Wechselbälger zu begraben. Krätze stellte fest, dass die Sicheln der angeblichen Kinder aus altem Kupfer bestanden. In den Überresten ihrer Kleidung konnte er nichts Interessantes finden.
Der Goblin nahm auch Pell unter die Lupe, konnte jedoch keine Magie an ihm feststellen.
Im Schein einer Laterne suchte ich den Boden rund um das Kreuz nach Fußspuren ab, dort fand ich noch die zertrampelten Stiefelabdrücke mehrerer Männer.

Wilbur erreichte nach kurzer Zeit Avelten, das von seinen Apfelplantagen umgeben friedlich dalag. Bauernhäuser, eine Schmiede, eine Kirche, das Haus des Dorfbüttels,
das Gasthaus und die Mühle – alles geschmückt mit bunten Wimpeln, die Fenster waren jedoch bereits dunkel. Nächtliche Stille lag über dem Dorf. Nichts erweckte den Anschein, dass hier zu Mittsommer Kinder geopfert werden …

Unbehelligt erreichte der Halbling die Wachstube, ein Fachwerkhaus mit einem steinernen Anbau als Gefängnis. Entschlossen klopfte Wilbur an der Tür, bis ein Kerl mit Spitzbart öffnete – Terence Hügel, der Wachtmeister von Avelten. Wilbur zeigte ihm sein Abzeichen und gab sich als Hilfswachtmeister aus Kreutzing zu erkennen. Verwirrt und erschrocken über Wilburs Bericht, griff Hügel nach seinem Mantel und Degen und begleitete den Halbling zurück zu Lichtung. Terence Hügel wollte einfach nicht glauben, dass es Männer aus dem Dorf gewesen sein sollen, die Pell entführt hatten. Grimmig erwiderte Wilbur, dass er in Pfeilersruh und Kreutzing bereits sehr schlimme Erfahrungen mit Ghulen und Schwarzer Magie sammeln durfte. Etwas Böses gehe im Lande vor …

Terence Hügel erkannte den Jungen sofort, als er zusammen mit Wilbur den Opferplatz erreichte. Auch Pell erkannte den Dorfbüttel und bettelte gleich darum, sofort zu seiner Mutter zurückgebracht zu werden. Währenddessen untersuchte Melina das Kreuz.
Dabei stellte sie fest, dass das Holz bereits alt war und die beiden Balken schon des öfteren zu einem Kreuz zusammengebaut und später wieder auseinander genommen worden waren. Wahrscheinlich wurde das Kreuz nur für diese besondere Nacht hier aufgestellt. Auf Wilburs Vorschlag hin legten wir uns auf die Lauer. Wir wollten sehen, wer später kommen würde, um das Kreuz wieder abzubauen.
Terence nahm Pell für diese Nacht zu sich auf die Wachstube. Schließlich konnte der verängstigte Junge auf keinen Fall zurück zu seiner Mutter, bevor klar war, wer alles hinter seiner versuchten Opferung steckte …
Geistesgegenwärtig hatte Wilbur von der Wachstube einen Spaten mitgebracht. Der Halbling hob noch ein Grab für die getöteten Wechselbälger aus und ich legte ihre sterblichen Überreste hinein. Dann warteten wir …

Je weiter die Nacht voranschritt, desto kühler wurde es. Zwischen den knorrigen Baumstämmen kroch fahler Dunst hervor und breitete sich langsam auf der Lichtung aus.
Plötzlich hörten wir ein Knacken im Unterholz. War der überlebende Wechselbalg mit Verstärkung zurückgekehrt? Ich drehte meine Laterne auf und in ihrem gelben Schein sahen wir uns weiteren Kreaturen des Waldes gegenüber:
Fünf Gestalten, ebenfalls so groß wie Kinder, jedoch von deutlich breiterem Körperbau. Ihre Gesichter waren voller Runzeln und Falten wie von alten Männern und sie trugen weiße, verfilzte Bärte. Auf ihren Schädeln saßen dunkelrote, feucht glänzende Kappen, aus denen dünne Blutfäden sickern. Die Kerle hielten scharfe Messer in ihren Händen und sie grinsten teuflisch vor Freude, uns hier zu finden.

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