20. Boron 1023 BF
Man sah deutlich, dass das Erdgeschoss des Turms bis vor kurzem noch im Boden gesteckt hatte. Vor dem Eingang waren frische Spuren von einem Fuß- und einem Tatzenpaar sowie Schleifspuren von Körpern, die in den Turm führten. Im ersten Stock hingen sieben Leiber an der Außenwand. Ihr Blut war ihnen aus vielen Wunden ausgelaufen – es war in einem Eimer gesammelt worden. In der Mitte war ein blutrotes Heptagramm, und überall waren heruntergebrannte Kerzenstümpfe.
Zwei Gefangene waren noch nicht tot. Ihre Ketten wurden gelöst und ihre Wunden versorgt. Es handelte sich um Gunja, die verschwundene Magd des Barons, und den Jäger Tiljew, von dem man bis dahin noch nicht gewusst hatte. Er hatte sich selber auf die Suche nach den Entführten gemacht. Seine letzte Erinnerung war, wie er auf eine fremde Tulamidin im Sumpf traf. Dhana hatte ihre Tasche zurückgelassen. Darin befand sich nicht nur der Schlüssel zu den Ketten sondern auch ihre Aufzeichnungen. Anhand der Veränderung der Handschrift vermochte man zu erkennen, dass Dhanas Persönlichkeit mehr und mehr von Jadminka Eisherz überdeckt wurde.
Vermutlich war es Brauch der Nauoken – als er den Leichnahm von Dhanas Katze, ihrem neuen Vertrautentier, fand, warf er ihn in einem unbeobachteten Moment in den Sumpf. Lyoscho resümierte nach einer eingehenden Untersuchung, dass der Turm auf einer Kraftlinie lag, Dhana zusammen mit einem Nagrach-Dämon vor höchstens einem halben Tag ein mächtiges Hexenritual abgeschlossen hatte, der einen Geist – offensichtlich den von Jadminka Eisherz – in ihrem Körper gebunden hat. Laut den Zeichen hatte sie einen Pakt im sechsten, dem vorletzten, Kreis der Verdammnis mit Nagrach abgeschlossen.
Er spürte auch, dass der Dämon weiterhin präsent war und sich im Begriff befand, Kraft zu sammeln. Er warnte seine Kameraden. Tsaekal und Hagen waren bereits von sich aus alarmiert. Draußen sammelten sich Sumpfranzen, während aus dem zweiten Geschoss drei Daimonidenwölfe herunter kamen. Mit letzteren machten die Geweihten kurzen Prozess. Die Verteidiger des Eingangs sahen, wie die Augen der Ranzen nagrachblau schimmerten. Auch vernahmen sie herannahende Reiter.
Die Ranzen waren in drei Gruppen aufgeteilt. Außerdem lauerte der Dämon, ein Nagrach-Wolf, im Sumpf. Dann erschienen die Reiter – Albin erkannte die Geister. Es waren Praioten aus dem früheren Orden der Kraft, die die Hexe gejagt und gefasst hatten. Sie vergingen, sobald sie den Turm erreichten. Während Isblòm und Tsaekal den Dämon angriffen, provozierten die anderen die Sumpfranzen, woraufhin diese auf den Turm zustürmten.
Tsaekal war nicht allein beim Nagrach-Dämon. Zerlumpte Menschen standen mit nagrachblauen Augen nur wenige Schritt entfernt. Schnell griff er an, und zugleich auch der Dämon. Der Nivese wurde wieder einmal gebissen, doch durchbohrte er seinen Gegner mit Firuns Winterspeer, so dass sich dieser mit Geschrei auflöste. Räuberbande wie Sumpfranzen standen nicht mehr unter dessen Kontrolle. Die wildgeworden Ranzen konnten man nun mit Feuer verjagen. Tsaekals Schulterwunde brannte höllisch. Die etwas unschlüssigen Kerle suchten das Weite, als Albin hinzukam. Lyoscho meinte die Bisswunde wäre nicht schlimm. Weder konnte er eine Vergiftung noch eine Infektion feststellen – der Schmerz blieb.
Die fünf Toten wurden beigesetzt. Sheanna erblickte den Geist der Katze, wie sie in den Turm und um das Heptagramm ging. Gunja und Tiljew erzählten, dass die Katze der Hexe einfach so während des Rituals gestorben war. Nun, das Vertrautentier war offensichtlich gestorben, als Dhana zu Jadminka geworden war. Lyoscho meinte, Dhanas beste Chance wäre eine Austreibung, aber das erforderte einen Anker, der ihr Stärke geben würde. Daraufhin fand Tsaekal ganz zufällig den Körper der Katze. Man richtete sich für die Nacht ein. Während seiner Wache erinnerte sich Tsaekal daran, dass der Apothecarius Rupert von seiner, also Tsaekals, Transformation gesprochen hatte…
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Albin hielt eine Morgenandacht, die erneut die Geister der Praioten anlockte. Lyoscho konservierte den Körper der Katze für sechs Wochen. Es gab keine Spur von Dhana, wie sie den Turm verlassen hatte. Tiljew führte sie zu Weidhart Ulmenau, der ein Veteran aus der Schlacht von Ochs und Eiche war. Doch vor drei Jahren war er in die Rotaugensümpfe geflohen, nachdem er im Streit einen Ritter von Uriel von Notmark erschlagen hatte. Er schien dies den Jägern, die mit ihm Umgang pflegten, nicht erzählt zu haben, denn sonst hätten diese ihm gewiss erzählt, dass Uriel schon lange tot war. Das wurde sogleich nachgeholt.
Weidhart wusste nichts von Dhana und dem Dämon, doch war es ihm nicht entgangen, dass sich alte Ruinen wieder aus dem Erdreich erhoben hatten. Lyoscho hoffte etwas über den Turm von Urnislaw von Uspiaunen zu erfahren, stattdessen sagte der Einsiedler, dass tiefer im Sumpf ein Goblinstamm lebte. Ihre Schamanin könnte mehr wissen.
Die Rückkehr in Silling wurde am Abend gefeiert, und jeder bekam 20 Batzen zum Lohn. In der nacht träumte Sheanna, wie Dhanas Geist sie rief.
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Am nächsten Morgen kam Praiodan Gerwinder vom Hüterorden zum Baron.