Als Linda Bræckstrøm sich über den leblosen Körper von Melina Nyberg beugte, ihn zu sich auf den Schoß zog und unter Tränen langsam die Gestalt der Toten annahm, verschwamm die Umgebung und verblasste. Plötzlich stürmten Bilder auf das junge Mädchen ein. Wie fetzen eines Wachtraums, sah Linda Szenen aus dem Leben der Verstorbenen.
In der stickigen Kammer lag ein schöner Jüngling auf dem Krankenbett. Schweiß glänzte auf seiner blassen Haut und seine spröden Lippen bewegten sich unentwegt. Melina konnte nur selten verstehen, was er sagte, das meiste war zusammenhangloses Gebrabbel im Fieberwahn. Reik würde sterben. Wenn nicht heute, dann in der kommenden Nacht. Ihr blieb keine Wahl. Auch wenn sie sich dafür hasste, was sie nun tun musste, erhob sich Melina entschlossen, blickte hinab auf ihren Geliebten und begrub alle Gefühle tief in sich.
***
Knirschend schabte der Bug des Bootes über den Kies. Melina war trotz des Nebels und der dunklen Nacht auf der Insel angekommen. Sie nahm das Bündel vorsichtig hoch und ging an Land. Leise Geräusche drangen durch die Leinentücher. Melina versuchte nicht, hin zu sehen. Sie fürchtete, wenn sie in die blauen Augen des kleinen Säuglings schaute, würden ihr Zweifel kommen. Doch Zweifel konnte sie sich jetzt nicht leisten. Wenn sie nicht das Notwendige tat, wäre Reik tot. Also drückte sie das Bündel etwas fester an ihre Brust, damit das Kind sich beruhigte.
Sie wusste nicht, wie der Junge hieß, noch kannte sie seine Eltern. Sie war nachts in das Haus eingedrungen und hatte den Säugling aus der Krippe genommen. Das Kind war dabei wach geworden, aber es hatte nicht geschrien. Melina verdrängte die Bilder des glucksenden und lachenden Jungen in ihren Armen. Diese blauen Augen…
Der Nebel war dichter geworden. Mittlerweile war der Boden morastig. Es roch nach faulem Holz. Dann sah sie den Feuerschein. Auf einer kleinen Lichtung, umrahmt von verkrüppelten Birken und alten Weiden, stand eine kleine Hütte. Davor brannte ein Lagerfeuer, über dem ein blubbernder Kessel vor sich hin köchelte.
Melina zuckte zusammen, als die alte Vettel plötzlich vor ihr stand. Sie hatte nicht bemerkt, dass das Weib sich genähert hatte. Die Sumpfhexe stützte sich gebeugt auf einen Stock. Sie war in verschlissenem Leinen gehüllt und trug ein schmutziges Kopftuch, unter dem graue Strähnen hervorquollen. Von ihren Ohren hingen lange Kordeln herab, an denen kleine Knochen baumelten. In das Gebein waren Runen graviert. Melina konnte sie nicht lesen, aber sie wusste, dass es Zeichen der dunklen Sprache waren. Nur Kultisten und Paktierer bedienten sich dieser Symbole. Das Gesicht der Vettel war verwachsen, die Haut ledrig. Aus dem Kinn sprießten vereinzelt borstige Haare. Die Nase war klobig und unter den wulstigen Augenbrauen funkelten gelbe Augen.
„Ich weiß, weshalb du gekommen bist.“
Die Stimme der Alten war tief und knarzend, wie der Rumpf eines Seelenverkäufers in schwerer See. Melina drückte den Säugling noch etwas fester an ihre Brust.
Die Sumpfhexe streckte ihre gichtige Hand aus.
„Gib es mir! Bevor du es noch erstickst. Tot nützt es mir nichts.“
Sanft nahm Melina das Kind in beide Hände und hielt es dem Weib hin. Dabei reckte sie ihr Kinn hoch, damit sie ja nicht hinab blicken konnte. Dennoch füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Was…, was werdet Ihr mit ihm machen?“
Die Vettel musterte Melina neugierig.
„Willst du das wirklich wissen?“
Ihre stimme klang weiter tief, aber das knarzen war sanfter, lauernder, fast schon belustigt.
Melina antwortete nicht. Die Sumpfhexe nahm das Kind und brachte es zu einem kleinen Korb neben dem Feuer. Als sie zurück kehrte, hielt sie etwas in der Hand.
„Nimm das und lege es dem Sterbenden auf die Brust.“
Die Vettel hielt ein Stück Kohle, groß wie ein Apfel, in ihren verdrehten Fingern und reichte es Melina.
„Achte darauf, dass es nicht verrutscht, während er schläft. Vielleicht wickelst du etwas drum herum? Doch vorher achte darauf, dass du etwas von deinem Blut auf den Stein gibst. Drei Tropfen sollten reichen.“
Die Sumpfhexe reckte ihren Zeigefinger schief in die Höhe und fixierte mit ihren Augen Melina.
„Das ist wichtig! Drei Tropfen von deinem Blut.“
Dann wedelte sie mit der Hand.
„Und jetzt verschwinde. Du solltest fort sein, bevor der Nebel zu dicht wird und du nicht mehr zurück findest. – Oder willst du hier bleiben?“
Wieder lag dieses lauernde knarzen in der Stimme der Alten.
Melina lief zurück zum Boot. Als sie vom Strand ablegte, hörte sie den Säugling weinen. Mit kräftigen Ruderzügen fuhr sie aufs Wasser. Tränen strömten über ihr Gesicht.
***
Als Reik erwachte, war der Stein verschwunden. Melina hatte es so gemacht, wie die Vettel es gesagt hatte. Drei tropfen von ihrem eigenen Blut, den Stein auf die Brust gelegt und einen Verband herum gewickelt. Jetzt konnte man nichts mehr sehen, nur eine gräuliche Stelle war zurück geblieben, die aussah wie Kohleabrieb auf der Haut. Melina hatte erfolglos versucht, den Schmutz fort zu wischen. Irgendwann hatte Reik sie angeherrscht, sie solle damit aufhören, an ihm herum zu scheuern.
Linda erschrak sich etwas über den schroffen Ton der plötzlich in Reiks Stimme lag. Dann stürmten weitere Bilderfetzen auf sie ein. Diesmal nicht so szenisch, dafür um so intensiver. Linda sah, wie Reik und Melina in Kreutzing unterwegs waren. Sie trugen beide die braunen Röcke der Stadtgarde. Linda beobachtete, wie Reik in Kummer die Menschen drangsalierte. Wie es ihm offensichtlich Freude bereitet, Leute zu prügeln und zu verhöhnen. Linda spürte, wie Melina ebenso entsetzt darüber war, wie sie selbst. Die Bilder in ihrem Kopf drehten sich immer schneller. Die Taten von Reik wurden grausamer, bis er schließlich auch vor Mord nicht mehr zurück schreckte. Dann legte sich der Sturm und das Bild wurde wieder klarer.
In der stickigen Kammer lag ein schöner Jüngling auf dem Bett. Er atmete ruhig und schlief tief und fest. Vielleicht lag es an dem Opium, dass Melina ihm in den Tee gemischt hatte. Sie betrachtete die schmutzige Stelle auf Reiks Brust. Trotz all der Zeit, war der Fleck nicht verschwunden. Ansonsten hatte sich einiges geändert. Sie waren keine Braunröcke mehr. Man konnte ihnen zwar nichts Konkretes nachweisen, aber die Gerüchte in Kummer waren irgendwann so unüberhörbar, dass Jonas Kreucher, Chef der Gardisten, sich genötigt sah zu handeln. Jetzt gehörten sie zu den ‚Schweren Jungs‘, einer Gruppe von Schlägern, die das Armenviertel unsicher machte. Sie hatten zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen, entweder weil Reik sie umgebracht oder weil er sie anderweitig ins Unglück gestürzt hatte. Und Melina, weil sie tatenlos zugesehen hatte. Zuerst hatte sie es nicht wahr haben wollen. Schob es auf die Strapazen der schweren Krankheit, die Reik durchgemacht hatte. Doch irgendwann musste sie einsehen, dass ihr geliebter Freund, den sie seit ihrer Kindheit kannte und den sie schon liebte, bevor sie vor vielen Jahren ein Paar wurden, von einer dämonischen Finsternis besessen war. Ein Schatten hatte sein Herz ergriffen und es mehr und mehr verdunkelt. Zum Schluss war nichts mehr von dem eloquenten, freundlichen und gewitzten jungen Mann übrig, den sie so sehr liebte.
Melina stach das Messer mitten in seine Brust. Reik riss die Augen auf. Sein Körper spannte sich, um dann einige Sekunden später zu erschlaffen. Die Augen brachen und verloren ihren Glanz. Reik war tot, und kein Ton war über seine Lippen gekommen.
Zeit verstrich. Als Melina das Messer aus der Brust zog, klebte kein Blut an der Klinge, nur eine ölige schwarze Substanz. Ein ekeliger Geruch von fauligen Eiern breitet sich in der Kammer aus. Melina musste würgen und stolperte nach draußen. Dort atmete sie einige Male tief ein und aus. Der Gestank war so penetrant, dass sie unweigerlich hätte kotzen müssen, wäre sie weiter in der Kammer geblieben. Sie schob sich ein Tuch vors Gesicht und atmete nur durch den Mund, bevor sie wieder hinein ging. Als sie Reiks Körper sah, wurde ihr schwindelig. Von dem hübschen Jüngling war nur ein verrottender, fauliger Leib übrig, in dem sich Myriaden von Maden wandten. In der Mitte des offenen Brustkorbs lag ein faustgroßer schwarzer Stein, wie ein Stück Kohle, das alles Licht um sich herum aufzusaugen schien. Melina taumelte wieder nach draußen. Jetzt musste sie kotzen. Lang und ausgiebig.