Am Tag nach unserem überraschenden Zusammentreffen mit der Kaiserin rief uns Leatmon Praiosop zu sich. Diesmal war der Junge nur von zwei Wächtern begleitet. Etwas umständlich und auch unsicher eröffnete er uns, dass wir für die anstehende Reise einen Schwur ablegen sollten. Vor allem die Berater ihrer Majestät bestanden darauf. Diese Maßnahme hatte den Sinn, die Mission vor Verrat und Scheitern zu schützen. Natürlich blieb uns, nachdem wir bereits eingewilligt hatten den Jungen zu begleiten, keine Wahl, dennoch baten wir darum, vor der Zeremonie den genauen Wortlaut zu erfahren. Gerne erwies uns Leatmon diesen Gefallen.
So kamen wir noch einmal am nächsten Tag mit ihm zusammen, und er verlas von einer Schriftrolle die Worte, die uns durch den Segen der Götter an ihn und die Mission binden sollte:
“Ich gelobe, gehorsam und aufrecht Leatmon Praiosop zu schützen und mit allen Mitteln bei der Erfüllung seiner Aufgabe zu unterstützen. Kein Verrat an ihm oder seinen Mitstreitern zu begehen und auf der Seereise Kapitän Rateral Sanin XII. Befehle zu befolgen und seine Autorität anzuerkennen. Verstoße ich jedoch gegen meine Pflichten, bin aufrührerisch oder begehe Verrat, so will ich fortan vor Scham und Furcht vor dem gerechten Zorn Efferds und Peraines wimmern und kreischen. Wann immer ich Wasser berühre, wird es mich verbrennen, und jede Speise wird ungenießbar bei meiner Berührung.”
Dann endete das Jahr 1030 BF. Fünf namenlose Tage ließen die Stadt fast gänzlich zum Erliegen kommen. Wir nutzten die Zeit, unsere Fähigkeiten zu trainieren und warteten auf weitere Order.
Am ersten Tag des neuen Jahres bestellte man alle, die mit dem “Seeadler von Beilunk”, Kapitän Sanins Schiff, aufbrechen würden, in den Efferd-Tempel. Und wie uns Leatmon schon angekündigt hatte, sollten wir einen Schwur ablegen.
Die versammelten Geweihten begannen die Zeremonie mit den Worten: “Heilige Peraine, heiliger Efferd und heiliger Praios, segnet diesen Schwur mit eurem Geiste.
Die Worte, die nun gesprochen werden, sollen heilig sein, wie auch ihr Sinn und ihre Bedeutung. Sie werden aus freien Stücken geschworen ohne Dunkelsinn und Tücke im Geiste. Wer jedoch den Schwur tut, um seine Bedeutung zu verzerren, wer den anderen gegen seinen Willen zwingt oder wer den heiligen Eid bricht, der sei eurer Strafe anempfohlen.”
Danach wurde der eigentliche Schwur vorgetragen, so wie er uns auch von Leatmon schon bekannt war, und wir sprachen mit dem Rest der Mannschaft die Worte nach.
Damit waren wir vereidigt, und bereits am nächsten Tag stachen wir in See.
Unser Schiff war eine dreimastige Galeere mit großer Besatzung. Neben den Soldaten und Ruderern waren auch zwei Efferd-Geweihte und vier Schiffsmagier mit an Bord. Nachdem wir den Hafen hinter uns gelassen hatten, wurden die Segel gesetzt, und wir fuhren aufs offene Meer. Mir bekam der Seegang gar nicht. Die meiste Zeit der Reise verbrachte ich an der Reling, wo ich mich nach Belieben übergeben konnte. Gargrimmsch schien es ähnlich zu gehen.
Schon bald war uns klar, warum man weite Teile des Perlenmeers heute “Die schwarze See” nannte. Der Ozean war bodenlos und dunkel wie die Nacht. Während unserer Reise passierten auf See seltsame Dinge. Eines Morgens machte sich Gestank breit und das Meer war gelb und zäh wie Eiter. An einem anderen Tag regnete es wahrhaftig Blut und rohes Fleisch! Einmal sahen wir sogar Wurzelzeichen im Wasser, von denen man uns sagte, dass sie sich im Heckwasser von Dämonenschiffen bildeten.
Am 3. Praios, dem zweiten Tag unserer Reise, bat man uns in die Messe zu einem Essen mit den Offizieren und Leatmon. Hier besprachen wir zum ersten Mal genauer, was auf uns zukommen könnte. Die gesamte Mission folgte quasi den Visionen des Knaben. Zunächst würden wir die Insel “Frühlingsstrand” anfahren – ein Heiligtum der Peraine. Dort wollte der Junge um eine Erleuchtung beten und danach mit uns weitere Schritte beraten.
Tags darauf meldete der Ausguck drei Schiffe am Horizont. Zunächst befahl Sanin, sich kampfbereit zu machen, als er aber sah, unter welcher Flagge sie fuhren, lies er beidrehen und ruderte mit einem Beiboot hinaus, um mit dem Kommandanten der anderen Segler zu sprechen. Bemerkenswert hierbei war, dass es sich um einen Teil der Flotte Helme Haffaxs handelte! Leatmon Praiosop war darüber ebenso erstaunt wie wir. Zwar wussten wir, dass Haffax und Sanin alte Weggefährten waren, aber dass sie so offensichtlich kollaborierten, war neu. Den Knaben verwiesen wir mit seinen Fragen an den Kapitän, denn wir konnten ihm das nicht erklären.
Am 6. Praios lies Sanin Anker werfen. Wir waren auf offener See. Erst im Schutz der Nacht steuerte er die “Seeadler von Beilunk” näher an die Küste. Ein gefährliches Unterfangen, da der Feind hier mehrere Stützpunkte unterhielt.
Irgendwann schälte sich in der Dunkelheit die Kontur einer Insel heraus. Wir hatten Frühlingsstrand erreicht. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen. Zusammen mit einigen Matrosen und dem Knaben Leatmon setzten wir über. Bevor wir an den Strand gelangten, zog Nebel auf, den wir durchqueren mussten. Es schien so, als wenn der Dunst sich wie ein Gürtel um die Insel legte und sie vor dem Blick der Feinde verbarg.
Frühlingsstrand war nicht groß, vielleicht einhundert Schritt durchmessend. In der Mitte befand sich ein mächtiger Baum. In ihm spiegelten sich alle Jahreszeiten wider. Einige Äste hatten frische Triebe und Blüten, ein Teil stand in vollem Laub, während ein weiterer bereits zu welken begann und ein Vierter winterlich kahl war.
Leatmon kniete vor dem Baum nieder und betete. Gargrimmsch ging das Eiland ab und sah im Sand zahlreiche tönerne Scherben aber auch Knochen. Noch bevor wir uns einen Reim darauf machen konnten, bemerkten wir, dass an dem Baum plötzlich jemand erschienen war. Dort stand eine junge Frau mit wehendem Haar, kaum verhüllt mit einem durchscheinenden grünen Stoff.
Leatmon blickte auf und fragte, wer sie sei. Die Dryade antwortete, dass sie über die Insel wachen würde. Der Knabe sagte, dass er hergekommen sei, um nach Rat für seine weitere Reise zu suchen, woraufhin die Frau sagte: “Ich will euch eine Geschichte erzählen. Hört genau zu! Ganz genau!”
Ihr Blick richtete sich in die Ferne, als sie sprach:
“Es ist Leben. Es ist gedeihen. Es ist Jugend.
Wo es ist, können Bäume wachsen.
Wo es ist, können Blumen ihr buntes Haupt aus der Erde erheben und die Sonne grüßen.
Eine Blume ohne es geht ein.
Ein verdorrtes Feld wird durch es grün und fruchtbar.
Es fällt vom Himmel, es fließt aus den Bergen.
Es kommt aus der Erde.
Wasser! Heiliges Element, mystisches Band zwischen den Geschwistern.
Ohne Wasser kein Leben. Keine Blumen, keine Bäume, keine Menschen.”
Die Hüterin schaute Leatmon direkt an.
“Doch seht eure Hände! Sie können kein Wasser tragen. Es rinnt durch eure Finger. Ihr könnt es nicht festhalten, denn es fließt. Ein Krug fängt das Wasser. Der Krug trägt das Wasser von seiner Quelle zu den trockenen Feldern, zu den durstigen Mündern. Ohne Krug kein Wasser. Doch der Krug – er ist verschwunden, geraubt vom übelsten aller Diebe, Frevlerhände umfassen ihn. Sie präsentieren ihn jubelnd, als Zeichen ihrer Macht über die Götter.”
Die Stimme der Dryade war immer schneller und drängender geworden, jetzt beruhigte sie sich wieder etwas.
“Heiliges Wasser, tief aus der Erde, Geschenk der heiligen Mutter! Tragt es mit dem Krug auf die Felder, benetzt die verdorrten Pflanzen, schenkt den durstigen ein. Über Stock und Stein hindurch durch zürnende Feinde – tragt es zu denen, die es bedürfen, wie seinerzeit die unerschrockene Lindegard.”
Dann lächelte die Dryade und sprach: “Haltet nicht ein! Verzagt nicht! Zweifelt nicht! Spendet mit dem heiligen Wasser neuen Segen!”
Damit endete die Prophezeiung. Die Hüterin hatte keine weitere Erklärung, außer dass ihr die Worte durch die Göttin Peraine selbst eingegeben worden waren. So verabschiedeten wir uns von ihr und kehrten mit dem Boot zurück auf unser Schiff.
Mittlerweile hatte der Nebel auch die “Seeadler von Beilunk” erfasst, sodass wir einige Mühe hatten, sie wieder zu finden. Der Morgen dämmerte bereits. Der Kapitän lies rasch den Anker lichten und setzte Kurs aufs offene Meer. Bald bemerkten wir, dass uns zwei xeeranische Segler folgten. Sanin gab Alarm und steuerte auf die feindlichen Schiffe zu. Ein kurzes Seegefecht entbrannte, in dem wir Zeuge der beeindruckenden Schlagkraft der “Seeadler von Beilunk” werden konnten. Während die Rotzen den Feind unter Beschuss nahmen, fuhren wir auf den ersten Piraten zu und rammten ihn in schneller Fahrt. Dabei wurde das feindliche Schiff in zwei Teil geteilt! Der andere Segler wollte fliehen, doch er entkam uns nicht. Mithilfe unserer Magier und den Efferd-Geweihten nahm die Seeadler enorm an Geschwindigkeit auf. Während die Rotzen den Feind dezimierten, machten wir uns zum Entern bereit und nahmen das Piratenschiff im Handstreich. Der feindliche Kahn wurde in Schlepp genommen, und wir steuerten weiter auf das offene Meer hinaus.
Erst als die “Seeadler” in Sicherheit war, fanden wir die Zeit, uns mit Leatmon und dem Kapitän zu beraten. Der Knabe kannte eine Legende von einem “Krug der Lindegard”, welcher ein Artefakt der Peraine sein sollte. Den Worten der Dryade nach vermutete er, dass sich dieser jetzt in den Händen Xeerans, genauer in seinem Hort im “Goldenen Haus” in der Stadt Mendena befand. Leatmon wusste, dass er rasch nach Ilsur musste, aber er war sich auch sicher, dass wir für unseren Erfolg dringend diesen Krug brauchten. Also beschlossen wir, dass wir südlich von Mendena an Land gehen würden, während die Seeadler mit dem Knaben weiter nach Ilsur fuhr.
Kapitän Sanin berichtete von einem Kontakt in Xeeraniens Hauptstadt, einer Händlerin aus Al’Anfa namens Lamredania Dupasque-Florios, aus dem Grandengeschlecht der Florios, die er für weitestgehend vertrauenswürdig hielt. Das Problem war aber, nach Mendena hinein zu gelangen. Dazu brauchten wir die Hilfe des tobrischen Widerstandes. Dieser war aber sehr vorsichtig in Bezug auf Fremde. Sanin kannte in der Nähe ein Fischerdorf namens Feuerhafen (wegen des Leuchtfeuers, welches dort errichtet war). In dem Dorf versteckte sich ein alter Freund des Kapitäns: Just, genannt “der Totengräber”. Die Widerständler in dem Dorf dürften wissen, wie man ihn findet, doch leider war Feuerhafen von Strandräubern besetzt, die sich vom Heptarchen das Recht erkauft hatten, dort ihr Unwesen zu treiben. Um das Vertrauen des Widerstandes zu gewinnen, sollten wir zunächst die Banditen aus dem Weg schaffen. Wenn wir dann zu Just gebracht würden, hatte Sanin uns ein Schreiben für ihn mitgegeben. Der Totengräber konnte uns dabei helfen, nach Mendena zu gelangen. Für die Händlerin aus Al’Anfa nannte uns Sanin dann noch eine Parole:
Wir: “Wir sammeln Spenden für die Schlaflosen.”
Antwort: “Habt ihr schon einen Schlaflosen gesehen?”
Darauf wir: “Wer schläft, sündigt nicht.”
In der Nacht vom 7. auf den 8. Praios näherten wir uns mit der “Seeadler” der Küste. Die Strandräuber hatten ein großes Feuer entfacht, um Schiffe auf Grund zu locken. Wir verabschiedeten uns von Leatmon und Kapitän Sanin und setzten mit dem Beiboot ans Festland über.
Am Strand folgten wir einem Pfad, der hinauf ins Hinterland führte. Ansgar und ich schlichen voraus und erreichten bald das Dorf. Man sah den Feuerturm und Behausungen für etwa einhundertfünfzig Einwohner. Vor einem größeren Gebäude standen zwei bewaffnete Männer. Ansgar und ich sprachen uns kurz ab und nahmen sie dann unter Feuer. Nach zwei wohlgezielten Treffern waren beide kampfunfähig, der Angriff blieb aber nicht unbemerkt. Wir eilten zurück zu unseren Gefährten und rückten gemeinsam gegen das Dorf vor. Die Strandräuber hatten bereit begonnen, die Bewohner zusammenzutreiben, da sie offensichtlich dachten, dass sich irgendwo im Dorf Widerständler versteckten. Mit den Laternen, die die Banditen trugen, boten sie perfekte Ziele.
Bald merkte der Feind, dass das Dorf von außen angegriffen wurde, und stürmte uns entgegen. In einem kurzen aber heftigen Gefecht konnten wir einige ausschalten. Ein Strandräuber wurde von Meister Retus mit einem Zauber gelähmt, um später befragt zu werden. Die restlichen Banditen flohen zum Strand, wo sich vermutlich noch weitere versteckt hielten. Wir folgten ihnen vorsichtig. Im Dorf war wieder Ruhe eingekehrt, die Bewohner hatten sich in die Häuser zurück geflüchtet.
Am Hang hinunter zum Strandfeuer konnten wir die Räuber dann stellen. Wieder kam es zu einer erbitterten Auseinandersetzung, in der wir es schafften, fast alle Strandräuber auszuschalten. Nur zweien gelang die Flucht. Wir ließen sie ziehen, denn Greifwin war ernstlich verletzt und konnte nur durch den geübten Einsatz eines Balsam, gewirkt von Meister Retus, gerettet werden. Danach machten wir uns rasch zurück auf den Weg ins Dorf. Schließlich war dort noch ein gelähmter Feind, den wir zur Befragung festsetzen mussten.