—Reisebericht von Karl Auenthal
Das Kind schrie wie am Spieß. Der hohle Baumstamm verzerrte das Geräusch noch mehr ins Unheimliche. Sofort eilten alle herbei, um dem Kind beizustehen. War ich der Einzige, dem diese Szenerie seltsam vorkam? Zu meiner Verwunderung schnappte aber keine Falle zu, kein Monster brach aus der Göre hervor, noch näherten sich weitere Angreifer. Sollte ich mich irren? War das Mädchen wirklich nur ein Kind, das hier in der Öde zurück gelassen wurde? Langsam begann auch ich zu zweifeln.
Mit viel Geduld gelang es schließlich Johann Gerbrand, das Kind zu beruhigen. Ihr Name war Charlotte. Sie war verdreckt, aber nicht sonderlich abgemagert. Sie erzählte uns, dass ihr Vater, Juri, zu der Faustgesellschaft gehörte, und dass in der Nacht ein „schwarzes Monster“ die Männer aus dem Lager geschleift hatte. Sie war der Spur bis hierher gefolgt und fest entschlossen, ihren Vater zu finden.
Wir berieten uns kurz. Die Schleifspuren führten durch die Brache auf eine bewachsene Insel zu. Wenn wir uns ein wenig beeilten, würden wir dorthin gelangen und auch noch zurück zur Straße, bevor es dunkel werden würde. Innerlich sträubte sich mir alles, aber auch ich stimmte zu, dem Mädchen zu helfen. Es würde sich noch zeigen, dass ich besser auf mein Bauchgefühl gehört hätte.
Das Land, das wir durchquerten, war tot. Nach einer Stunde erreichten wir unbehelligt die „Insel“. Nur einmal unterwegs meinte Don Ignacio auf der Insel eine Reflexion gesehen zu haben. Jetzt gab es aber keinen Anhalt dafür, dass jemand in der Nähe war, oder uns beobachtete.
Die „Insel“ war eine Oase der Vegetation in der Ödnis der Brache. Wir schätzten ihren Durchmesser auf etwa eine Meile. Am Rand stieg das Land steil an. Die Kuppe mochte wohl einhundertfünfzig Meter hoch sein. Überall sprießte es, Rasen und Büsche, Bäume und eine bemerkenswerte Anzahl von Pilzen, die sich an den Stämmen und im Gras ausbreiteten.
Die Schleifspuren führten am Fuß der Insel in eine Höhle. Irgendwer hatte den Eingang mit einigen Büschen getarnt. Dahinter befand sich ein mehrere Meter breiter aber nur knapp einen Meter hoher Kriechgang. Wir mussten also auf alle Viere runter. Sollten wir angegriffen werden, säßen wir in der Falle. Außerdem brauchten wir Licht, was uns weithin sichtbar machte. Mit sehr durchmischten Gefühlen begaben wir uns in die Höhle.
Wir kamen nur sehr langsam voran und brauchten für die knapp fünfhundert Meter fast eine Stunde. Als erstes bemerkten wir ein phosphoreszierendes, grünes Leuchten. Dann weitete sich der Kriechgang in eine große Höhle. Der Boden fiel etwas ab und war mit einem See aus gelbgrünlich schimmerndem Nebel bedeckt. In der Mitte der Höhle, vielleicht zwei Dutzend Meter entfernt, erhob sich ein wuchtiger, weißer Strunk aus dem Dunst und reichte bis zur Decke. Er war umschlungen von dornigen Ranken. Überall aus dem Stamm sponnen sich dünne weiße Fäden wie Zuckerwatte um kürbisgroße Beulen, die mit einer trüben, gelblichen Flüssigkeit gefüllt waren. Irgendetwas bewegte sich darin.
Plötzlich schrie Johann Gerbrand auf und verschwand im Nebel. Er hatte Charlotte bei der Hand gehalten. Hatte sie ihn fortgerissen?
Die Nebelschwaden wallten und lichteten sich an einigen Stellen. Sie gaben einen gruseligen Anblick preis. Überall auf dem Höhlenboden befanden sich Körper, umsponnen von dieser weißlichen Substanz. Einige waren bereits skelettiert, doch andere bewegten sich noch. Zwei von ihnen erhoben sich. Sie waren erst leicht eingesponnen, und deutlich konnte man das Abzeichen der Faustgesellschaft an ihnen ausmachen. Wie Marionetten wurden sie hochgehoben von einem Strunk, der aus ihrem Hinterkopf wuchs. Mit ruckartigen Bewegungen, wie fremdgesteuert, zogen sie ihre Waffen und näherten sich. Weitere Körper erhoben sich. Dann tauchte Johann auf. Er rief uns eine Warnung zu, dass das Mädchen sich verwandelt habe in eine koboldhafte Gestalt. Und dann sahen wir sie. Etwas kleiner als ein erwachsener Mann, mit runzeliger, borkiger Haut, einer spitzen Nase, bösartig funkelnder Augen und einem Kopfhaar wie eine Grassode. Mit keckerndem Lachen verschwand sie hinter dem Strunk. Ihre Gestalt erinnerte mich an den Beschreibungen des Grendel in Beowulf.
Schon bald sahen wir uns allen neun vermissten Faustgesellschaftern gegenüber. Gott sei Dank bemerkte Don Ignacio, dass sie alle mit einer Ranke, von ihrem Hinterkopf ausgehend, mit dem Pilzstrunk in der Höhlenmitte verbunden waren. Als wir eine der Verbindungen kappten, brach der Angreifer zusammen und erlangte nach und nach wieder Kontrolle über seinen Körper und seine Gedanken. Im selben Moment zerbarst allerdings eine der gelb leuchtenden Beulen am Pilzstamm, und eine kleine Version von Charlotte Grendel schlüpfte daraus hervor und griff uns an. Jedes Mal, wenn wir einen der Faustgesellschafter befreiten, geschah das gleiche. Bald hatten wir alle Männer gerettet, waren aber umzingelt von diesen biestigen kleinen Dingern, mit ihren nadelspitzen Zähnen und Klauen. Aber Johann Gerbrand trug nicht umsonst seinen Beinamen „Armageddon“. Mit der Abwehr zahlreicher Schergen kannte er sich aus. Jedes Mal, wenn einer der kleinen Grendels starb, heulte Charlotte zornig auf. In den Kampf griff sie aber nicht ein, sondern verbarg sich feige im Nebel.
Die erste Gelegenheit, die sich uns bot, nutzten wir, die Höhle zu verlassen. Draußen in Sicherheit bedankten sich die Männer bei uns. Herbert Grün, der Anführer der Faustgesellschafter, erzählte uns von dem Verrat. Einer seiner Männer namens Hubert Gimpel hatte ihr Bier vergiftet und sich mit den Seelenlichtern vom Acker gemacht. Noch halb betäubt waren sie nicht in der Lage, sich gegen Charlotte Grendel zu wehren, als diese das Lager angriff und wurden hierher verschleppt. Ihr Auftraggeber war Gerold von Freyberg, wie Herbert sagte, ein geachteter Anführer der Faustgesellschaft. Eigentlich wollten sie sich mit ihm in Waldenau treffen und die Seelenlichter übergeben.
Wir erzählten Herbert Grün, dass wir die Spuren eines fliehenden, jetzt berittenen, Mann gefunden und bis zur Straße nach Süden verfolgt hatten. Vermutlich war das Hubert Gimpel. Dass wir auch schon eine Begegnung mit dem Baron von Freyberg hatten, verschwiegen wir zu diesem Zeitpunkt erst einmal.
Wir waren uns schnell mit Herbert Grün einig, dass wir Hubert Gimpel jagen und dingfest machen. Die Faustgesellschaft würde uns für unsere Dienste angemessen entlohnen.