Nach einem langen Weg begegneten wir der Stimme, der ersten Zofe der Sommerkönigin.
Sie empfing uns mit kühler Höflichkeit, während wir uns vorstellten und unser Anliegen erklärten. Wir wollten mehr über Margarethe erfahren und über das Gespräch, das sie einst mit der Sommerkönigin geführt hatte.
Die Zofe berichtete, dass Margarethe, früher eine Verbündete der Sommerkönigin, einst ein magisches Gefängnis erhalten habe. Es war dazu bestimmt, ein düsteres Artefakt namens „Leerenstein“ darin einzuschließen. Dieser Stein galt als gefährlich, eine Bedrohung für das Gleichgewicht der Welt.
Knirps Made bat nun um ähnliche Hilfe, denn der Leerenstein war wieder frei. Dieses Artefakt war nicht von Menschen geschaffen worden, sondern vom uralten Wesen Xerath aus dem Hexerkönigreich von Gog, dem Schöpfer des Steins, der nun alles daranzusetzen schien, ihn zurückzuerlangen. Laut der Sommerkönigin war der Erschaffer des Steins unsterblich. War demnach Xerath unsterblich? Wir fürchteten jedenfalls, dass er mit dem Leerenstein etwas Ungeheuerliches plante – und wollten ihn keinesfalls in seine Hände fallen lassen.
Doch die Sommerkönigin war machtlos. Ein weiteres Gefängnis konnte sie uns nicht bieten, denn ihre Mittel waren erschöpft. Auch wir wussten keinen Weg, Xerath zu vernichten. Der Leerenstein war zu mächtig, sein Ursprung zu fremdartig. Und das Wesen, das ihn geschaffen hatte, zu gefährlich. Er durfte ihn nicht zurückbekommen.
Es kam noch mehr ans Licht: Margarethe hatte einst berichtet, dass in der Stadt Martereck ein sogenanntes Seelengefäß verändert worden sei. Dieses Gefäß, ein Behälter für eine Seele oder eine uralte Macht, drohe, den Schleier zwischen den Welten zu zerreißen. War der Leerenstein dieses Gefäß?
Schließlich sagte uns die Zofe, dass die Sommerkönigin den Leerenstein tatsächlich vernichten könne, doch dafür müssten wir ihn erst in unseren Besitz bringen. Dann könnten wir erneut mit ihr in Kontakt treten. Die Verbindung würde über ihren Diener, den „Wächter der Gärten“, erfolgen.
In jener Nacht schliefen wir in der Unterkunft. Vater Garwin und Wylan wurden jedoch von Stimmen geweckt. Ein Trupp elfischer Soldaten war erschienen und warf uns vor, eine Grabstätte geschändet zu haben. Knirps Made konnte im Redeschwall der Elfen kaum etwas entgegensetzen. Die elfische Sprache war uns fremd. Nur Knirps Made verstand, mit Mühe, einzelne Worte, wenn man langsam und klar sprach. Goblinisch und Elfenisch waren in ferner Vergangenheit verwandt gewesen, aber für eine Verständigung reichte es kaum.
So abrupt, wie sie erschienen waren, verschwanden die Elfen auch wieder – wütend. Später kehrte die Stimme der Königin zurück, diesmal mit denselben Wachen. Sie entschuldigte sich: Wir konnten es nicht gewesen sein.
Doch die Zweifel blieben. War jemand mit uns gereist, unerkannt? Ein Gefallener vielleicht? Und was war mit dem schwarzen Schwert des Elfenprinzen geschehen, dass wir beim Übergang ins Totenreich verloren hatten?
Die Situation war kaum zu fassen. Eine fremde Umgebung, Sprachbarrieren, falsche Anschuldigungen, die Bedrohung durch den Peiniger, die Sorge, dass unsere Welt der Leere anheimfallen könnte… Wir fühlten uns überfordert und verloren.
In derselben Nacht wollte Vater Garwin seine Pixies zu Rate ziehen. Er holte die Glaskugel aus seinem Umhang, und mehrere Pixies entglitten ihr. Sie deuteten uns, ihnen zu folgen, durch die nächtliche Stadt, hinaus bis an den Rand. Dort bedeutete uns eines der Wesen zu warten, flog davon und kehrte wenig später zurück. Es deutete auf eine Gestalt auf einer Brücke. Doch kaum hatten wir sie erblickt, war sie auch schon verschwunden. Wer war sie? Was wollte sie?
Der Pixie führte uns weiter, bis zu einem Durchgang in der Stadtmauer. Dahinter lag ein dichter Wald. Wir gingen etwa eine halbe Stunde, bis wir an eine Hecke gelangten. Sie war dornig, dicht, abschirmend. Unsere Blicke reichten nicht hindurch, und auch ein Durchkommen war nicht möglich.
Also wagte sich Herren Maurice-Abel, der Kater mit der Seele von Julius Hendrik Abel, durch das Gestrüpp. Der Übergang in die Totenreiche hatte ihren Geist miteinander verschmolzen.
Er bahnte sich einen Weg durch die dornige Barriere, kratzte und schlängelte sich hindurch. Er eben war ein feliner Akrobat. Zumindest der Teil von Herrn Maurice. Dahinter lag ein abgeschlossener Raum, umgeben von Ranken und Pflanzen. In der Mitte: ein Bett aus Blättern, auf dem eine elfische Frau in tiefem Schlaf lag. Kein Ausgang, kein Licht. Herren Maurice-Abel versuchte, sie zu wecken mit seinem Miauen, mit seinen Krallen. Nichts half.
Als er später an einer Holztür kratzte, wurden seine maunzenden Laute lauter, bis Elfen die Tür öffneten. Der Wächter der Gärten trat hervor, nahm Maurice-Abel auf den Arm, streichelte ihn – und brach ihm das Genick.
Wir, die draußen geblieben waren, wussten nichts von seinem tragischen, wenn auch schmerzlosen Ende. Nach einiger Zeit kehrten wir zurück in unsere Unterkunft. Am nächsten Morgen gingen wir nochmals zur Hecke. Dort lag er: Herr Maurice. Das Genick gebrochen. Ein viel zu früher Tod für ein so kluges, treues Wesen.
Wir durchwanderten die Stadt. Die Elfen mieden uns. In unserem Quartier öffnete Vater Garwin schließlich die Truhe, die er einst im Gasthaus der zwei Zwerginnen von Julius Hendrik Abel erhalten hatte. Darin lag eine Art magischer Anker. Ein Mittel, mit dem Julius ihn finden wollte, falls sie voneinander getrennt werden. Doch es blieb still. Julius fand uns nicht.
Die Nervosität bei Kleckser und Knirps Made nahm zu. Kleckser und Knirps Made machten Julius für den Tod von Herr Maurice verantwortlich. Sie wollten die Geschichte Fräulein Grün erzählen. Schließlich hatte sie ihnen das Tier anvertraut und fürchteten schwerwiegende Konsequenzen von der Hexe.
Nach einiger Zeit kam die erste Zofe erneut und verabschiedete uns. Mit dem Wächter der Gärten verließen wir die Stadt und zogen in den Wald.
Während der Wanderung berichtete uns der Wächter, ein Gefallener habe eine Grabstätte überfallen und sei dabei getötet worden. Knirps Made erzählte, dass er im Wald wieder die dunkle Sprache hörte: ein leises, schneidendes Flüstern, wie einst beim schwarzen Schwert. Der Wächter zeigte uns genau dieses Schwert. Es war bei dem Gefallenen gefunden worden. Die Grabstätte, so erfuhren wir, war jene des Sohnes der Elfenkönigin.
Nach einiger Zeit erreichten wir einen See, verborgen im Wald. Der Wächter erklärte, dass der Mond ihn bescheinen müsse, um den Übergang zurück in unsere Welt zu ermöglichen. Doch bevor wir ihn betreten konnten, griffen wilde Elfen an – und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.
Der Wächter drängte. Wir mussten weiter.
Er trat in den See. Das Wasser trug ihn, obwohl es wie gewöhnliches Wasser wirkte. Einer nach dem anderen folgten wir ihm, tauchten ein und lösten uns im Licht auf.
Beim Übergang jedoch geschah es: Wylan drohte zu ertrinken. Vater Garwin kam ihm zu Hilfe. Kleckser aber, in einer Mischung aus Verzweiflung und Improvisation, versuchte ihn mit Zigarrenrauch im Anus wiederzubeleben. Eine absurde, aber offenbar nicht wirkungslose Methode. Wylan überlebte, wenn auch zutiefst verstört und an der Grenze zum Wahnsinn. Als Art Luftballon für einen bulligen Ork missbraucht zu werden, war eine Erfahrung auf die der ehemalige Pirat hätte verzichten können.
Wir erwachten am Ufer des Kaltwassersees.
Es war wohl der 26. Juni 889 – so schätzten wir.
Da hörten wir Husten in der Dunkelheit.
Ein nackter, erschöpfter Mann taumelte aus dem Wald ins Lager.
Es war Julius Hendrik Abel.
Er brach zusammen.