Upsala, 31. Oktober 1880
Nach unserem Gespräch mit dem Notar Lundquist überlegen wir, was wir bis zum Treffen mit Linnea Elfeklint unternehmen sollen. Nils, der kleine Botenjunge, steht immer noch draußen und wartet auf uns, in der Hoffnung, noch einen weiteren Auftrag zu erhalten. Man hört das leichte Plätschern der Wellen des Flusses Fyrisân, auf dem Boote mit Touristen unterwegs sind.
In der Entfernung sieht man den mächtigen Dom von Upsala und viele kleine Fachwerk- und Ziegelhäuser, eng aneinander gebaut, mit kleinen Gassen dazwischen, die von den großen Hauptstraßen abzweigen. Es gibt die verschiedensten Bäckereien, Tavernen und Gasthäuser.
Wir verabreden uns zur Mittagszeit im Café Bürger & Bäcker. Linda geht mit ihrem Hund Kajus allein los, um etwas zu essen und Wein zu trinken. Bengt und Elsa gehen gemeinsam schon vorab ins Café Bürger & Bäcker, um die Örtlichkeit zu begutachten. Klara begibt sich zu einem Antiquariat, und Ida und ich beschließen, uns den Dom anzusehen.
Zur Mittagsstunde treffen wir alle im Café Bürger & Bäcker ein, wo Bengt und Elsa bereits auf uns warten. Klara erzählt uns von ihrem Fund im Antiquariat mit dem Namen “Bogen der Artemis” und zeigt mir kurz das von ihr erworbene Buch „Das Mysterium von Schloss Gyllenkreutz“. Mir fällt auf, dass die Bindung und das Papier älter wirken, als es die 100 Jahre vermuten lassen, die das Buch laut Einband haben sollte, es soll aus dem Jahr 1796 stammen. Auffällig ist, dass in der Mitte des Buches einige Seiten (mindestens ein Dutzend) leer sind. Der Autor war der bekannte Botaniker Carl von Linné.
Linnea Elfeklint trifft ein. Sie nähert sich uns mit geschmeidigen Bewegungen, hält einmal unsicher inne und setzt dann ihren Weg fort. Es scheint, als ob die Besitzerin des Cafés und sie sich kennen. Linnea hat weißgraues Haar und wirkt, als wäre sie um die 60 Jahre alt, obwohl sie von ihrer Art her jünger erscheint. Sie stellt sich uns vor und lädt uns ein, ihr in die obere Etage zu folgen, die sie reservieren ließ. Oben angekommen, nehmen wir Platz und sind gespannt, was kommen mag.
Linnea teilt uns im Gespräch mit, dass sie seit einigen Monaten von uns träumt und deshalb den Notar Lundquist beauftragt hat, uns zu finden, was ihm über Detektive gelungen ist. Sie erwähnt, dass sie sich selbst hin und wieder in eine Nervenheilanstalt einweist, um sich von ihren Erlebnissen zu erholen.
Linnea gibt uns einen kurzen Überblick über die Geschichte der „Gesellschaft für Studien der Unsichtbaren und Schutz der Menschheit“ und des „Ordens der Artemis“. Die Gesellschaft bestand früher aus deutlich mehr Menschen als heute, es waren damals Hunderte. Sie ist das letzte Mitglied der Niederlassung von Upsala, soweit sie weiß. Die Gesellschaft wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts gegründet. Die Gründer waren Tine Rasmussen und Mats Rosenberger, sie gründeten die Gesellschaft in Kopenhagen. Ursprünglich zielte die Gesellschaft darauf ab, Wissen zu sammeln und es zur Verfügung zu stellen, insbesondere Wissen über die Vaesen oder Kreaturen. In alten Zeiten lebten Menschen und Vaesen im Einklang, und es war bekannt, wie man miteinander umgehen musste. Mit der Zeit blieben, als die Menschen technisch fortschrittlicher wurden, nur noch die Mythen übrig.
Vaesen können nur von “Donnerstagskindern” erblickt werden, deren Fähigkeit meistens durch ein traumatisches Ereignis auftritt. Wenn man diese Gabe einmal erlangt hat, verschwindet sie nicht mehr, und die Vaesen sind sich bewusst, dass sie gesehen werden können. Sie suchen jene heim, die diese Gabe besitzen. Die meisten Vaesen leben in Wäldern, Flüssen und Gebirgen und nur selten in der Nähe von Städten.
Im Laufe der Zeit wandelte sich der Zweck des „Ordens der Artemis“. Gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden Abspaltungen innerhalb des Ordens. Einige Mitglieder strebten danach, Wissen über die Vaesen zu sammeln, während andere das Ziel verfolgten, die Vaesen auszurotten, teilweise wurden sie als Wesen der Hölle betrachtet.
Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die Niederlassung des Ordens der Artemis in Upsala von Carl Linneaus gegründet. Nach einer Expedition nach Nordschweden in Lappland änderte er den Namen in „Gesellschaft für Studien der Unsichtbaren und den Schutz der Menschheit“. Warum er dies tat, ist unbekannt, ebenso wie seine Entdeckungen in Lappland.
Mit der Zeit wurden die Vaesen aggressiver, und Übergriffe auf Menschen traten häufiger auf. Kurz darauf zerstörte ein Feuer in der Niederlassung alle Aufzeichnungen zur Expedition nach Lappland.
Die zunehmende Aggressivität der Vaesen führte dazu, dass immer mehr Mitglieder der Gesellschaft über die Jahrzehnte und Jahrhunderte starben. Ein Vorfall in Nordfinnland ereignete sich, als eine Familie von Riesen einen ganzen Ort bedrohte. Mitglieder der Gesellschaft aus ganz Skandinavien kamen zusammen, viele Hunderte waren in einem Schloss vor Ort. Was genau passierte, ist nicht bekannt, aber die Riesen griffen das Schloss an, es brannte bis auf die Grundmauern nieder, und fast alle Mitglieder kamen um.
Drei Mitglieder der Gesellschaft aus Upsala überlebten, indem sie sich während des Feuers in einem Schlossbrunnen versteckten. Nach ihrer Rückkehr versuchten sie, die Niederlassung wieder aufzubauen und Mitglieder zu gewinnen: Baronin Katja Kokola, Professor Albert Wredenhielm, Gräfin Hilma af`Thulenstierna.
Der Wiederaufbau misslang, viele Rekruten wurden wahnsinnig oder starben. Die drei gaben das Projekt auf und verschwanden. Niemand weiß, was aus ihnen wurde. Linnea war eines der letzten verbliebenen Mitglieder vor über zehn Jahren. Das Schloss Gyllenkreutz ist seit zehn Jahren unbewohnt, und der Zweck der Gesellschaft wird seither nicht mehr verfolgt. Sie versuchte, alles hinter sich zu lassen, bis vor einigen Monaten ihre Visionen und Träume von uns begannen. Linnea meint, dass wir würdige Nachfolger seien, um den Zweck der Gesellschaft wiederzubeleben. Sie hat uns mitgeteilt, dass sie das Schloss nicht mehr betreten wird. Als wir nachfragten, war sie eine Zeit lang wie abwesend, gefangen in traumatischen Erinnerungen.
Linnea meinte, wir sollten das Weitere mit dem Verwalter des Schlosses, Algot Frisk, besprechen. Er stammt aus einer langen Reihe von Verwaltern, seine Familie stellt seit Generationen den Verwalter des Schlosses Gyllenkreutz. Er kann uns über die Riten informieren, die im Schloss abgehalten wurden, und kennt die Räumlichkeiten sowie die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft. Es gibt auch eine große Bibliothek im Schloss mit hunderten Aufzeichnungen von Mitgliedern über ihre Tätigkeiten und Begegnungen. Der Verwalter lebt nicht im Schloss, sondern in der Stadt, wird uns aber heute im Schloss erwarten, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Linnea gab noch einmal den Hinweis, dass Vaesen sich nicht gerne in der Nähe von Menschen und Städten aufhalten und geweihten Boden meiden. Nach dem Treffen mit Linnea Elfeklint begeben wir uns zurück zum Notar, wo wir Dokumente über die Erbschaft des Schlosses und einen reich verzierten Schlüssel erhalten. Anschließend fahren wir mit einer Kutsche zum Schloss Gyllenkreutz.
Das Schloss liegt im Norden der Stadt und ist von einem riesigen Grundstück umgeben, das von einem mächtigen Eisenzaun eingefasst wird. Der Garten ist völlig verwildert, und die einzelnen Gebäude wirken sanierungsbedürftig. Es gibt einen Bootsanleger, da das Schloss direkt am Fluss liegt, eine überwucherte Kapelle, Stallungen, einen botanischen Garten usw.
Wir durchschreiten das Doppeltor der Einfriedung, das Bengt mit dem Schlüssel geöffnet hat. Der Hund von Linda und die Katze von Ida scheinen vom Grundstück des Schlosses etwas verschreckt zu sein. Am Haupttor angekommen, klopfen wir mit den Türringen und ziehen die Klingel. Als nach einiger Zeit niemand öffnet, schließt Bengt das Schloss mit dem Schlüssel auf, es ist ein Geräusch zu hören, ähnlich wie aus einem Uhrwerk, als er den Schlüssel umdreht, und die Tür lässt sich öffnen.
Wir betrachten die Eingangshalle und die nähere Umgebung, es ist leicht staubig, und alle Einrichtungsgegenstände sind mit Tüchern abgedeckt. Es wirkt, als ob das Schloss ein Labyrinth sei. Nach kurzer Zeit finden wir den blauen Salon, der schon hergerichtet scheint. Wir entzünden die Kerzenständer, und Bengt den Kamin. Es neigt sich dem späten Nachmittag zu. Die Einrichtung ist klassisch, mit Bildern, Ausstellungsstücken aus Schweden und teilweise exotischen Ländern, manches scheint eine Verbindung zu Vaesen zu haben.
Nach etwa einer Stunde hören wir das Eingangstor, und ein paar Minuten später betritt der Verwalter den blauen Salon. Algot Frisk stellt sich kurz vor. Der Verwalter hat sechs Schlafräume herrichten lassen, falls wir schon diese Nacht hier übernachten wollen, ihm wäre es jedoch lieber, wir würden erst morgen einziehen. Der blaue Salon ist, wie wir sehen können, fertiggestellt. Der Verwalter erklärt, dass der einzige Plan des Schlosses in seinem Kopf existiert.
Er warnt eindringlich davor, gesperrte Bereiche des Schlosses zu betreten, da dort verschiedenste Gefahren von Baufälligkeit bis zu Übernatürlichem lauern könnten. Über die Zeit, wenn wir uns eingelebt haben und Aufträge erfüllt haben, wird das Schloss weiter in Betrieb genommen und wiederhergestellt. Der Verwalter wird auch vertrauenswürdiges Personal einstellen. Er erwähnt, dass vor Missionen Ressourcen verteilt und Schwüre vor der Statue der Artemis geleistet wurden. Er wird dies mit uns durchgehen, wenn es so weit ist. Der Verwalter beantwortet weitergehende Fragen nicht oder weicht ihnen aus.
Er verteilt an uns das Erkennungszeichen der Gesellschaft, es sind Armreifen mit einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Ouroboros. Das Material scheint vergoldet und gedreht zu sein. Meiner Einschätzung nach stammen die Armreifen aus der Zeit der Nordmänner um 1100 herum. Der Verwalter ist nach eigenen Angaben 93 Jahre alt, ich hätte ihn auf maximal 60 geschätzt und noch für sehr rüstig gehalten. Er bekräftigt nochmals, das Schloss nicht alleine zu erkunden und vor allem die gesperrten Bereiche, wie zum Beispiel das Verlies, nicht zu betreten. Es könnten dort unten noch vergessene Vaesen eingesperrt sein. Er zeigt uns die Hauptbibliothek, die riesig und verwinkelt ist, voller Bücher. Er weist darauf hin, dass keines der Bücher das Schloss verlassen darf. Wir beschließen, diese Nacht noch in der Pension zu verbringen und am nächsten Morgen um 8:30 Uhr wieder im Schloss einzutreffen.