Tagebuch von Norvid Runeson
Ort: Falun – Bergbaustadt
Datum: Samstag, 29. Januar 1881 / Sonntag, 30. Januar 1881
Sonnabend, 29. Januar 1881 – Nachmittag und Abend
Das Abendessen im Fika-Haus war reich besucht. Stimmengewirr und das Klirren von Geschirr erfüllten den Raum, dazu mischten sich der Geruch von warmen Essen und gebackenem Brot und Gebäck. Viele Reisende und Leute aus der Stadt hatten sich eingefunden, doch keine Bergarbeiter. Auch Lisa Johansson war als Bedienung anwesend, und ich bemerkte, wie nervös sie wirkte. Einige der Einheimischen schauten sie an, selbst Madame Dagny Dubois blickte irritiert zu ihr hinüber. Nur ihr Hund Claude zeigte Freude, sprang immer wieder an Lisa hoch, als gehörte er zu ihr.
Franzibald war zufrieden mit dem Gebäck. Er fragte leise, was wir inzwischen wüssten. Linda wollte von ihm hören, was er herausgefunden habe. Doch er wich ihr aus und reichte ihr stattdessen eine Zimtschnecke, um ihrem Nachfragen zu entgehen. Er selbst kannte den Pfarrer Bruselius kaum, der Kontakt sei über Madame Dubois entstanden.
Als Ida ihn auf die Halskette ansprach, nannte er sie bloß einen hübschen Tand. Von einem Vaesen im aktuellen Fall wollte er nicht sprechen, vielleicht eher ein Fluch oder bloß ein Zauber. Linda erzählte, was sie im Gasthaus gesehen hatte, das verbrannte Wesen oder ein Kind, Ida bestätigte es. Franzibald meinte, bei der SVEA‑Bergbaugesellschaft laufe etwas nicht richtig, ebenso im Haus des Pfarrers Bruselius. Ich notierte mir, dass dessen Frau Emilie und ihr verstorbener Mann Jörgen Ekdahl aus Upsala stammten. Ida berichtete außerdem von Lisas nächtlichem Gang ins Bergwerk. Wir überlegten, ihr zu folgen, doch Franzibald hielt es für klüger, vorher ihr Vertrauen zu gewinnen.
Wir setzten die einzelnen Fäden zusammen, aber uns fehlte noch vieles. Wir mussten weitere Orte sehen und Informationen sammeln. Ida, Sunna und Clara beschlossen, Lisa im Auge zu behalten. Franzibald wollte eine Führung in die Mine erreichen. Er erwähnte, dass Pfarrer Bruselius und Järmo Taaltinen sich aus der Theologischen Fakultät in Upsala kannten und einst Kommilitonen gewesen seien.
Später kam Lars Norderstedt, Sunnas Verabredung. Er war ordentlich gekleidet. Sie erfuhr, dass er in der Buchhaltung der SVEA‑Bergbaugesellschaft arbeitet, erst seit wenigen Monaten. Lasse Hellström, sein Vorgesetzter, ist seit etwa einem Jahr in der Zweigstelle in Falun und wird dorthin geschickt, wo Zahlen oder Strukturen nicht stimmen. Das Gespräch der beiden wirkte hölzern.
Ida sprach währenddessen mit Lisa, Clara mit Madame Dubois, weil Claude so auf Lisa fixiert war. Dubois wirkte etwas eifersüchtig, doch nicht sehr. Clara brachte Bruselius ins Gespräch, der inzwischen an die fünfzig Jahre alt sein dürfte.
Ich selbst sprach Franzibald auf seine Halskette an. Er trug sie nun verborgen unter dem Hemd. Auf meine Frage, ob sie etwas mit der Gesellschaft zu tun habe, verneinte er. Sie sei von persönlicher Bedeutung. Doch als ich das Pulsieren des Amuletts erwähnte, wurde er unruhig. Er versuchte, das Thema zu wechseln. Als ich nachhakte, brach er das Gespräch ab und suchte hastig einen Vorwand, um zu gehen. Das missfiel mir, aber die Reaktion ist auch eine Antwort.
Sunna erfuhr von Norderstedt, dass ein Mann namens Butch seit einem halben Jahr für die Gesellschaft arbeitet, geschickt von Sigrid Magnusson, der Ehefrau des Chefs Karl Magnusson der SVEA‑Bergbaugesellschaft. Unterdessen sprachen Ida und Linda mit Lisa. Als Linda von der Erscheinung im Gasthaus erzählte, wirkte Lisa nicht erschrocken, sondern interessiert. Sie schien von innerer Verzweiflung erfüllt, vor allem Bruselius betreffend. Sie erzählte, dass sie sich in der Stadt nicht zugehörig fühle, bei den Bergleuten hingegen schon.
Als Linda sie ermutigte, sich uns anzuvertrauen, sagte Lisa traurig, sie wisse nicht einmal, woher sie stamme. Ob wir je irgendwo aufgewacht seien, ohne zu wissen, wer wir sind, fragte sie. Schließlich erzählte sie, dass sie vor fünf Jahren bei den Hügelgräbern in Alt‑Upsala erwacht sei. Dort sei sie ohne Erinnerung an Herkunft oder Namen zu sich gekommen, allein zwischen uralten Grabhügeln und Runensteinen. Seitdem ziehe sie ruhelos umher, von einem Ort zum nächsten, immer wieder von einer inneren Kraft weitergetrieben. Alt‑Upsala, ein Ort voller Geschichte, Sagen und Mythen, war der Anfang dieser Rastlosigkeit.
Ein Mann betrat das Gasthaus und suchte nach Linda. Sie begrüßte ihn herzlich, Hetgar Thule. Er gab eine Runde aus und sprach mit uns über das Bergwerk. Er erzählte, dass die Mine seit über tausend Jahren in Betrieb sei, anfangs habe man häufig natürliche Höhlen gefunden. Manche Bergarbeiter berichteten von Stimmen und Geräuschen, die sie in den Wahnsinn trieben. Auch die Geschichte des Toten, der nach vierzig Jahren gefunden wurde, aber aussah, als sei er erst seit zwei Tagen verstorben, kam zur Sprache.
Getrennt davon berichtete Hetgar auch vom Tod Jörgen Ekdahls und dem Verschwinden seiner Leiche. Er erwähnte außerdem, dass es Gerüchte gebe, Bruselius wolle die Mine schließen lassen. Zudem erzählte er, dass die Stimmen und Geräusche im Bergwerk zuletzt zugenommen hätten, mehrere seiner Kumpel hätten sie gehört und schwören darauf. Einige seien dadurch bereits dem Wahnsinn verfallen.
Linda sprach ihn auf Bruselius und das tote Kind an. Hetgar sagte, man erzähle, der Pfarrer habe es verbrannt und verscharrt. Seine Worte waren ernst, und er deutete an, die Bergleute seien bereit, Bruselius in seine Schranken zu weisen, notfalls mit Gewalt, wenn der Pfarrer gegen die Bergleute vorgeht und ihre Ehefrauen der Hexerei bezichtigt. Das beunruhigte mich mehr, als ich mir anmerken ließ.
Später schickte Madame Dubois die Gäste heim. Ich bemerkte erst da, dass ich nicht gesehen hatte, wann Graubart wieder verschwunden war, sein Kommen hatte ich an diesem Abend ebenfalls nicht registriert.
Wir legten Wachen ein, zuerst Sunna, dann Clara, dann Linda und schließlich Ida. In der Nacht gab es Schatten über den Dächern und lautlose Bewegungen, die ein oder andere mag sogar Stimmen im Kopf gehört haben. Am Ende schlief Ida beim Bibellesen ein.
Sonntag, 30. Januar 1881 – Morgen
Ich war der Erste beim Frühstück. Bald fiel mir auf, dass Claude nicht bellte. Madame Dubois begann, nach ihm zu suchen. Da öffnete sich die Tür, Lisa stand dort, im Schlafanzug, barfuß, erschöpft, mit zerschundenem Körper, gezeichnet von Blut, Schrammen und blauen Flecken. Ihr Gesicht war bleich und leer, die Augen glanzlos, als wäre sie aus einem Albtraum gerissen worden. Sie wirkte wie jemand, der im Schlaf durch Hölle und Feuer gegangen war. Einen Moment lang herrschte völlige Stille im Raum, niemand wagte zu atmen. Dann brachen einzelne Rufe des Entsetzens aus, und die Gesichter der Umstehenden erstarrten im Schock. Erst danach fiel unser Blick auf ihre Arme, In ihren Händen hielt sie den toten Körper von Claude, zerfetzt und verbrannt.
Mir schnürte es die Kehle zu. Ich lief zu ihr, legte ihr eine Decke um und barg den Hund. Sein Körper war steif, das Blut geronnen. Madame Dubois brach ohnmächtig zusammen. Ida brachte Lisa in ihr Zimmer, Franzibald kümmerte sich um beide.
Wir zogen uns an und folgten der blutigen Spur am Rand der Stadt bis zur Mine. Vor dem Eingang standen Bergarbeiter, die nicht hinein durften. Hetgar erzählte Linda, dass mehrere verbrannte Leichen gefunden worden seien und manche von einer halbnackten Frau oder einem verbrannten Hund berichteten.
Wir nutzten die Gelegenheit, schlichen uns hinein, nahmen Helme und eine Hacke. Drinnen roch es verbrannt, Ruß schwärzte die Wände. Bald fanden wir die erste verkohlte Leiche. Sie war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Der Gestank von verbranntem Fleisch schlug mir auf den Magen. Ich habe in meinem Leben viel gesehen, doch das war entsetzlich. Eine weitere Leiche folgte, älter vielleicht, aber ebenfalls verkohlt. Clara musste sich übergeben.
Aus der Tiefe hörten wir kreischende, wimmernde Laute, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Es klang fast wie ein Kind. Ich nahm einen Schluck Laudanum, um mich zu fassen. Sunna meinte, ein Schmatzen zu hören, irgendwo unter uns. Der süßlich‑fäuliche Geruch, der uns begleitete, war kaum zu ertragen.
Wir gingen weiter durch den spiralförmigen Tunnel. Wieder eine Leiche, halb im Gang liegend, an der anderen Hälfte hatte etwas gefressen. Dann hörte Clara das Schmatzen erneut. Sunna spürte hinter sich Wärme und hörte Knistern. Wir hielten die Laternen gedämpft, doch schließlich mussten wir das Licht aufdrehen. Unser Atem hallte laut in unseren Ohren.
Plötzlich sprang etwas hinter uns in den Tunnel. Eine Kreatur, humanoid, doch nicht menschlich. Haut grau wie Granit, muskulös, mit spitzen Zähnen. Die Augen schwarz und leer. Der Körper schien verbrannt, als hätte das Feuer ihn gezeichnet. Fast zwei Meter hoch. In mir stieg ein Schauer auf, und ich spürte sofort, dass wir einer großen Bedrohung gegenüberstanden.