Das Schicksal webt seine unsichtbaren Fäden über Grenzen, Völker und Zeitalter hinweg. Vielleicht vermögen nicht mal die Götter den Verlauf dieses Gespinstes im Blick behalten. Wer kann erahnen, wo all seine Fäden zusammenlaufen und welches Muster sie schlussendlich bilden werden? Im Jahr 440 nach der Gründung des Imperiums gelangte der Gefallene, der Sohn der Sommerkönigin, an das Phylakterium des „Peinigers“, einem mächtigen Gefolgsmann des Hexerkönigs von Gog. Er brachte das Seelengefäß tief unter den Berg, auf dem die Kreuzfahrerfeste Martereck errichtet wurde. Dort, in der Dunkelheit verlassener Höhlen, liegt ein Mysterium verborgen, das „die Sterne nicht erblicken und den Nachthimmel formt“. Dieses Mysterium, welches Ängste Wahrheit werden lässt, nutze der Gefallene und verwandelte das Phylakterium in den Leerenstein. Ein verdorbenes Artefakt, dessen Macht den Schleier zwischen den Welten niederreißen und den Dämonenfürsten einlassen kann.
Doch aus unbekannten Gründen konnte der Gefallene die Kräfte des Leerensteins nicht sofort entfesseln. So kam es, dass Margarete von Kreutzing im Jahre 444 den Gefallenen in jenem Dorf stellte, das heute den Namen Pfeilersruh trägt. Sie sperrte den Geist des Elfen in ein Gefängnis, welches ihr von der Sommerkönigin anvertraut wurde. Doch den Leerenstein zu zerstören lag nicht in der Macht der Pilgerin und die Sommerkönigin wollte nur ihren missratenen Sohn aufhalten.
So nahm Margarete den Leerenstein an sich, um ihn vor dem Zugriff schwächerer Seelen zu bewahren. Vier Jahrhunderte sollte sie die Hüterin des Steins sein.
Eine unmenschliche Bürde, die einen schrecklichen Preis von Margarete forderte.
Der Leerenstein verzerrte ihren Körper in den einer Monstrosität, die Magra gerufen wurde und tief im Fossensee lauerte. Zu jeder Sommersonnenwende wurde Makra ein Menschenopfer dargebracht, damit ihr letzte Funke Menschlichkeit erhalten blieb und sie den Leerenstein weiter schützen konnte. Dieser Brauch wurde im Geheimen durchgeführt, bis im Jahr 888 ein Dämon aus der Leere entkam. Zeebuleb, der Verschlinger, tötete Makra und riss ihr den Leerenstein aus dem sterbenden Fleisch. Doch der Dämon überdauerte nicht lange. Nunmehr befindet sich der Leerenstein in den Händen eines korrumpierten Inquisitors, Estren Carabandius, der zum neuen Herold der Leere aufsteigen und der Welt den Untergang bereiten könnte. Wird es uns gelingen, den Fäden des Schicksals zu folgen und Carabandius aufzuhalten? Oder werden wir uns in ihnen verheddern, scheitern und der Herold der Leere das Gewebe des Schleiers zerreißen?
***
26.06.889 n. G. – Langsam verblassen unsere Erinnerungen an den Weg durch das fahle Totenreich und an die leuchtenden Farben der Elfenwelt. Wir wissen noch, dass wir wirklich dort gewesen sind und mit der Ersten Zofe, Stimme der Sommerkönigin, gesprochen haben. Nun sind wir zurück, im Dunkel der Nacht und der modrige Duft des Alten Waldes steigt in unsere Nasen. Wie genau sind wir hierher zurückgekommen?
Während wir uns noch etwas benommen aufrappeln, taumelt plötzlich Julius Henrik Abel aus dem Dickicht auf uns zu. Leichenblass, nackt, verdreckt und vor Kälte zitternd torkelt er zu uns. Wo kommt er jetzt nur her? Warum ist der Magier nicht direkt mit uns zurückgekehrt? Was ist mit seinem Hab und Gut passiert? Wir schlagen an Ort und Stelle unser Nachtlager auf. In eine Decke gehüllt, versucht der Magier sich am Feuer aufzuwärmen. Etwa abseits sitzt der Wächter der Gärten. Er trägt eine kunstvolle, doch robuste Lederkleidung und sein exotisches Gesicht hält er im Schatten einer tiefen Kapuze verborgen. Das Schwarze Elfenschwert ruht eingepackt neben ihm.
Wir teilen unsere Vorräte mit Julius und er berichtet, wie Herr Maurice vom Wächter der Gärten getötet worden ist. Das beunruhigt Kleckser und mich sehr. Wie sollen wir Fräulein Grün erklären, dass ihr tierischer Gefährte noch eines seiner kostbaren Leben verloren hat, während der Magier in seinem Körper steckte? Zwei, denn wir dürfen seinen Tod durch die giftigen Dornen auch nicht vergessen. (Noch etwas, das von Menschen vermasselt worden ist!) Julius berichtet, wie er hinter der Dornenkuppel die schlafende Sommerkönig fand und von den schwarzen Ranken, die auf sie zuwucherten…
Der Magier will morgen früh so schnell es geht zum Gasthaus und von dort zum Alten Nok. Er hofft, dort seine Ausrüstung und seinen Zauberstab zu finden. Darum bietet er an, Vater Garwin, Kleckser und sich selbst dort hin zuteleportieren. Schließlich muss der Priester dort noch das Ritual vollziehen, damit die Toten nicht weiter durch das Tor beim Alten Nok in die Welt der Lebenden schlüpfen. Wylan und ich sollen mit dem Wächter der Gärten nach Kaltwasser aufbrechen und dort nach einer Spur von Carabandius suchen.
In der Stadt am Kalten See wollen wir uns dann wiedertreffen.
Ich übersetzen dem Wächter der Gärten den Plan. Mittlerweile kann ich sein Elfisch gut verstehen und mich ausreichend verständlich machen, auch wenn die Worte in meinen Ohren zu süßlich und verschnörkelt klingen.
Kleckser übernimmt die erste Wache und behält den schlafenden Magier misstrauisch im Auge. Schließlich weckt er mich und ich trete meine Wache an. Dabei höre ich das Schwarze Schwert flüstern…
Die Gefallenen haben es mir geraubt und nun befindet es sich im Besitz des Wächters der Gärten, dem Elfen, der dort am Stamm eines mächtigen Baumes lehnt. Er soll uns helfen, Carabandius zu stellen. Schläft er? Meditiert er? Es verlangt mich nach meinem Schwert. Wie alles, das mir gehört, will ich es ablecken.
Der Gartenwächter will es zerstören, hat er gesagt. Weil ein Dämon darin haust, hat er gesagt. Ich schleiche näher und berühre das in Leder eingeschlagene Schwert mit den Fingerspitzen. Mehr wage ich nicht. Hin- und hergerissen verbringe ich den Rest meiner Wache.
27.06.889 n. G. – Julius Henrik Abel hat es sehr eilig, zurück zum Gasthaus zu kommen. Gleich nach dem wir uns mit den Früchten aus der Feenwelt gestärkt haben, führt er ein paar einfache Zauber aus. Als Julius sicher ist, dass er seine Zauberkräfte wie gewohnt beherrscht, versammelt er Vater Garwin und Kleckser um sich. Routiniert spricht er eine magische Formel, die Luft um die drei flimmert, wird kurz dunkler – dann sind sie verschwunden:
Als es um sie herum wieder hell wird, stehen Julius, Kleckser und Vater Garwin vor dem verlassenen Gasthaus „Geißhorn“. Rasch holen sie den Schlüssel aus seinem Versteck und im Inneren der Wirtschaft findet Julius endlich etwas zum Anziehen. Dann machen sich die drei auf den Weg zum Alten Nok. Es gelingt ihnen, die verborgene Lichtung wiederzufinden. Krumm und düster wie eh und je erhebt sich der verdorrte Baum in ihrem Zentrum. Rings um seine weitreichenden Wurzeln ist das Erdreich aufgewühlt; hier sind die Toten aus dem fahlen Reich des Herrn Gevatter entkommen. Von den Spriggan, die die Lichtung gegen die gefallenen Elfen verteidigt haben, ist nichts zu sehen.
Dafür erblicken die Gefährten ein flaches, schmuckloses Grab. Es befindet sich an der Stelle, an der sie den Trunk von Fräulein Gülden eingenommen haben, um das Totenreich zu betreten. Ist Julius dabei vielleicht wirklich gestorben? Ist das der Grund dafür, warum sein Geist in den Körper von Herrn Maurice fuhr? Ist es sein Körper, der dort in der kalten Erde ruht? „Bist du ein Untoter?“, knurrt Kleckser misstrauisch.
Vater Garwin umfasst sein Schlangenmedaillon und spricht ein Gebet. Der Priester spürt, dass der Magier noch am Leben ist, auch wenn seine Aura etwas blasser ist als sie sein sollte. Auch die robuste Lebenskraft des Orks kann er wahrnehmen. Und da ist noch mehr: eine weitere Aura, kräftiger als die von Julius. Vater Garwins Blick bleibt an dem Bernsteinamulett hängen, das Kleckser um seinen Hals trägt. In ihm eingeschlossen:
die Fliege mit dem Gesicht eines Menschen … die neuentdeckte Aura gehört zu diesem reglosen, gefangenem Geschöpf. Ist es stärker geworden?
„Ich muss Gewissheit haben…“ murmelt Julius mit rauer Stimme. Sie beginnen das Grab zu öffnen. In der Erde finden sie einen Leib, der mit einem Leichentuch eingehüllt worden ist. Sie leben den Oberkörper frei und Kleckser schlitzt das Tuch mit seinem Messer auf.
Sie blicken in das graue Gesicht eines toten Mannes namens Julius Henrik Abel.
Zutiefst erschüttert wankt der Magier von seinem Leichnam weg und erbricht sich.
Kleckser lässt den Blick schweifen und findet in der Nähe ein Häufchen Asche.
Hier scheint vor einem Tag ein Ritual durchgeführt worden zu sein. Von Lesley? Hat sie die Toten bereits gebannt? Der Ork winkt Vater Garwin zu sich und zeigt ihm die Asche. Dann raunt er ihm eine Frage zu: „Wenn Julius’ Leiche in dem Grab liegt, wer ist dann der Kerl?“ Der Priester kann nur mutmaßen. „Anscheinend ist Julius in Abgründe der Magie vorgedrungen, die es ihm ermöglicht haben, sich einen zweiten Körper zu erschaffen. Wie das genau funktionieren kann, könnte höchstens er selbst beantworten.“
Nachdem sie sich alle etwas von dem Schrecken erholt haben, wird das Grab wieder verschlossen. Julius nimmt noch sein Zauberbuch und seien Stab an sich. Dann folgen sie einer Spur vom Aschehaufen zurück zur Straße in den Alten Wald. Es sieht so aus, als hätte Lesley ihre Schritte nach Pfeilersruh gelenkt.
Währenddessen habe ich das Gefühl, dass wir beobachtet werden. Der Wächter der Gärten hat sich kurz von uns getrennt, um die nähere Umgebung zu begutachten.
Unruhig schleiche ich mich zum Waldrand und spähe in das schattige Dämmergrün zwischen mächtigen Baumstämmen und hohem Farn. In fünfzig Metern Entfernung kann ich einen großen, kräftigen Wolf erkennen, der sich leise wie ein Windhauch durch das Unterholz bewegt. Das ist kein gewöhnliches Tier! Ich kann erkennen, dass die Wolfsgestalt das Ergebnis eines mächtigen Verwandlungszaubers ist. Rasch kehre ich zum Lager zurück. Dort ist auch unser elfischer Begleiter aufgetaucht. „Wir müssen hier fort! Sofort“, zischt er mir zu. Noch während ich mein Bündel schultere, übersetze ich für Wylan und flinken Schrittes machen wir uns auf den Weg nach Kaltwasser.
Als Julius sich, Vater Garwin und Kleckser wieder zurück zum Lagerplatz teleportiert, finden sie diesen verlassen vor. Aber Kleckser fällt es leicht, unsere Fährte zu finden und dank seiner Fähigkeiten als Waldläufer haben sie uns in relativ kurzer Zeit wieder eingeholt. Während wir unseren Weg gemeinsam fortsetzen, berichten wir, was uns zwischenzeitlich widerfahren ist. Dann erzählt uns Wylan etwas über die Stadt, zu der wir unterwegs sind. Kaltwasser liegt am Kalten See, der wiederum vom Kalten Fluss gespeist wird. Der Fluss seinerseits entspringt dem Schwarzwasser, einem Gewässer am Rande der Wüstnis. Kaltwasser ist kleiner als Kreutzing, verfügt aber ebenfalls über einen Binnenhafen. Eine alte Festung aus kriegerischen Tagen dominiert das Stadtbild. Heute befinden sich dort der Sitz des Gildenrates und der Garnison. Schon als wir uns der Stadt nähern, weichen die anderen Passanten vor Kleckser und mir zurück. Orks und Goblins scheint man hier mit Misstrauen zu begegnen. Als wir das Stadttor erreichen, halten die Büttel uns an. Vater Garwin erklärt, dass es sich bei unserer bunten Truppe um ein Pilgergruppe handele. Ungewöhnlich in ihrer Zusammenstellung, dennoch ungefährlich.
Die Büttel bleiben misstrauisch, insbesondere was Kleckser angeht. Vater Garwin muss erst versichern, dass der Ork nichts mit irgendwelchen Aufständen im Süden zu tun hat und für Kleckser bürgen. Dann geben die Wachen zögernd den Weg frei. Der Elf, der sein Gesicht wieder im Schatten seiner Kapuze verborgen hat, fällt ihnen gar nicht auf.
Wylan kennt sich etwas in der Stadt aus und führt uns in eine Schmiede, wo er, Vater Garwin, Julius und Kleckser sich mit Waffen und Rüstungen versorgen. Ich selbst bleibe bei Leder und Bronze und meide das garstige Eisenzeug. Hätte ich nur mein Schwert…
Als es dunkelt, kehren wir in das Gasthaus „Zur kalten Furt“ ein. Neben Speis und Trank gibt es auch Musik. Sackpfeife und Tamburin übertönen das Gerede der Gäste an den Tischen. Vater Garwin fragt Wylan, wer ihn hier in Kaltwasser umbringen wollte. Der Schwertkämpfer berichtet von einem gefallenen Elfen, dessen Haupt von zwei Hörnern verunstaltet wurde. Wir überlegen, wie wir eine Spur von Carabandius finden können.
Kleckser stapft herüber zum Tresen und fragt bei Eugen, dem Wirt, nach. Er behauptet, Carabandius sei der Mann von Vater Garwins Schwester und erhält den Rat, es einmal in der Stadtkirche zu versuchen. Eugen selbst geht in die Hafenkirche und dort gibt es keinen Priester mit diesem Namen. Kleckser lässt sich den Weg beschreiben und kehrt zu uns an den Tisch zurück. Vater Garwin erkundigt sich bei einer der Schankmaiden und erhält die gleiche Antwort. Als wir das Geld für unser Essen und die Betten im Schlafsaal zusammenzählen, wird wieder klar, das Kleckser zwar lesen und schreiben kann, von Münzen aber keine Ahnung hat. Julius versucht, im den Wert von Kupferpfennigen, Silbergroschen und Goldkronen zu erklären. Doch warum ein bestimmter Haufen silberner Scheiben so viel wert sein sollte wie eine goldene Scheibe bleibt dem Ork absolut unverständlich. Schließlich gehen wir in den Schlafsaal, wo Kleckser einige andere Gäste „freundlich bittet“ uns die Betten am Ende des Raumes zu überlassen. Sie kommen diesem Wunsch „freiwillig“ nach. Wir beziehen also die hinteren Betten. Auch wenn wir hier in relativer Sicherheit sind, beschließen wir Nachtwachen einzuteilen. Schließlich vermuten wir, dass die Person, die schon einmal Wylan töten wollte und Johann vergiftet hat, uns weiterhin nachstellt. Doch die Nacht verläuft weitestgehend ruhig. Nur Kleckser wirft sich etwas unruhig hin und her, von wilden Träumen geplagt.
28.06.889 n. G. – Als wir uns am nächsten Tag auf zur Stadtkirche machen wollen, um nach Carabandius zu fragen, merkt Vater Garwin an, dass Kleckser und ich als Ork und Goblin in der Kirche schon kritisch sind. Würde dann zu allem Überfluss auch noch der Elf enttarnt werden, würde das einen Riesenkrawall geben. Folgerichtig beschließen wir, dass nur die Menschen zur Kirche gehen sollen.
Wir anderen sollen uns bei meinem Volk umhören, ob die Goblins der Stadt etwas aufgeschnappt haben. Also trenne wir uns mal wieder.
Vater Garwin, Wylan und Julius betreten die Stadtkirche, den größeren der beiden Sakralbauten in Kaltwasser. Der Platz vor der Kirche wird von einer Statue der Heiligen Astrid dominiert, die von zwei zähnefletschenden Hundefiguren flankiert wird. In der Kirche sitzen vereinzelt ein paar Gläubige in den Bankreihen. Über dem Altar befindet sich ein Buntglasfenster. Die Strahlen der Morgensonne fallen schimmernd durch das Bild der sich selbst verschlingenden Schlange. Vater Garwin spricht ein etwas ältere Frau an, die auf einer der Bänke sitzt. Sie verweist in auf das Kirchenamt und holt etwas verunsichert den Priester Vater Leonhard hinzu. Vater Garwin erzählt, dass er vor einem Jahr mit Carabandius gereist sei. Vater Leonhard berichtet, dass der Inquisitor etwas im Kirchenarchiv von Kaltwasser gesucht hat, als er das letzte Mal hier gewesen ist. Er selbst weiß leider nicht, was das gewesen sein könnte und der damalige Archivar ist mittlerweile verstorben (welch unglücklicher „Zufall“). Nun, da Vater Garwin weiß, was er weiß, könnte er im Archiv vielleicht herausfinden, wonach Estern Carabandius, Inquisitor und angehender Herold der Leere, dort gesucht haben könnte …