Das Boot fuhr zwischen zwei vereisten Felsnadeln hindurch und landete am Kiesstrand an. Es war schneidend kalt. Hinter dem Strand lag ein dunkler Fichtenwald. Tiefer im Wald sah man Rauchsäulen. Sten schaute sich um, während die Männer das Boot ausluden. Es gab keine Spuren, keine Anzeichen von Leben. Dennoch fühlte sich Sten aus dem Wald beobachtet.
Die Männer bereiteten am Strand einen Lagerplatz. Riskir, Haldor, Tjalf und Sten machten sich derweil auf den Weg durch den Fichtenwald in Richtung der Rauchsäulen. An einer Weggabelung erblickte der Bärenkrieger eine Bewegung in den Wipfeln eines Nadelgehölzes. Sten griff sich den Stamm und schüttelte die Fichte, was zur Folge hatte, dass ein Dutzend Pikten aus den umliegenden Bäumen fielen und unter Grunzen und Brüllen angriffen. Sie hatten keine Chance, nur ein paar Wenigen gelang die Flucht. Dann passierte etwas seltsames mit den Leichen. Ihre Leiber überzogen sich mit Eis, und völlig geräuschlos versanken sie in den Waldboden, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb.
In westlicher Richtung gelangten die Vier zu drei Hütten. Der Ort wirkte aber schon seit langem verlassen. Nach Nordwesten führte ein weiterer Pfad in den Wald. Ihm folgend gelangte die Gruppe zum Waldrand. Vereiste Felswände ragten in die Höhe. Fünf weitere verlassene Hütten standen dort herum.
Riskir murmelte: “Ob sich hier der Rabenspeer befindet?”
Weitere Wege taten sich im Wald auf. Irgendwann führten sie die Männer an die Ostseite des Talkessels. Dort tat sich in einiger Höhe eine Höhle auf. Sten kletterte voraus und half den anderen, ihm zu folgen. Von der Höhle ging ein vereister Gang abwärts. Nacheinander stiegen Tjalf und die anderen ab. Am Ende des Gangs gab es mehrere Abzweigungen. Die Gruppe wurde getrennt und irrte durch ein wahnsinniges und surreales Gewirr aus vereisten Tunneln, mit vereisten Leichen und Visionen von urtümlichen Ängsten. Irgendwann fanden die Männer wieder zueinander und erreichten eine große Kaverne. Am Ende war ein großer Stalagnat zu sehen, der dem Weltenbaum Yggdrasil nachgeformt war. Riskir untersuchte die Eissäule, während Haldor sie einfach berührte. Der Skalde sah den Rabenspeer vor seinem geistigen Auge und hörte die Stimme des Sehers: “Wenn Du diesen Speer erlangen willst, musst Du eigenhändig diesen Felsen erklimmen und eigenhändig diesen Speer ausgraben.”
Am Ende der Kaverne betrat nun eine Frau die Höhle. Sie hatte schwarzes Haar, ein bleiches Gesicht, war außergewöhnlich schön und in Fellen gehüllt. Die Frau stellte sich als Dienerin der Eiskönigin vor. Ihr Name war Idun.
Dann betrat die Eiskönigin* die Kaverne. Zwei Meter hoch gewachsen, grimmig, frostig, schritt sie zu ihrem Thron und setzte sich.
Riskir trug das Anliegen der Gruppe vor. Die Eiskönigin bot eine Vision des Gewebes der Nornen an – einen Blick in die schicksalhafte Zukunft. Außerdem hatte sie kein Interesse an Gnor. Als Preis forderte sie, dass der Stärkste und der Schönste der Gruppe gegeneinander um die Gunst des Beischlafs mit der Eiskönigin kämpften. Riskir ging auf den Handel ein.
Die Eiskönigin schritt zum Stalagnaten und sprach: “Eis und Feuer, Angst und Tapferkeit, Tag und Nacht, alles wird eins. – Wer kann es aufhalten, wenn sogar die Götter unterliegen könnten? Die Kinder werden für die Sünden ihrer Väter bezahlen, das Schicksal ist bereits geschrieben, dafür haben die Nornen gesorgt. Jetzt zählt nur noch der Kampf! Ihr könntet die Kraft für einen solchen Kampf haben. Habt ihr nach Antworten gesucht? Dann wisset, dies ist nur der Anfang. Wenn ihr glaubt, dass ihr stark genug seid, eurem Schicksal zu folgen, dann erwartet euch Ruhm. Doch nichts wird umsonst sein. Sucht das Gesicht des Einäugigen, das Gesicht von Odin.”
Nach der Prophezeiung ergänzte Idun: “Gnor ist ein Auserwählter der Herrin des Eises. Euer Schicksal ist verwoben mit ihm und dem Schicksal von drei Personen namens Vagn, Hedriss und Hjalti.”
Danach begann der Kampf um die Gunst der Herrin. Sten und Haldor traten gegeneinander an.
Idun sagte: “Verloren hat der, der am Boden liegt und sich nicht mehr regt.”
Sten schlug Haldor bewusstlos und folgte dann der Eiskönigin, um sie zu begatten. Nach getaner Arbeit, einem bemerkenswerten Akt der Lust und des frostigen Schmerzes, kehrten beide in die Kaverne zurück. Haldor wurde geheilt. Idun überreichte Riskir einen goldenen Apfel und gab noch allgemeine gute Ratschläge mit auf den Weg. Danach verließen die Männer die Eishöhlen.
Zurück an der Oberfläche blickte der Skalde die eisige Felswand hinauf. Dort oben sah er im Stein einen Speer. Den Rabenspeer.
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↑↑ *) Die Gruppe war gewarnt worden, die Eiskönigin nicht als Eishexe zu bezeichnen, was sie wohl nicht zu mögen scheint. Außerdem legte Idun großen Wert darauf, dass man sich in ihrer Gegenwart respektvoll benimmt. Die Gruppe beschloss, den sicheren Pfad zu beschreiten und nutzte den neutralen Begriff “Eiskönigin”. Natürlich hätte man sie auch mit ihrem Vornamen Elsa, denn jeder weiß, dass die Eiskönigin Elsa heißt, ansprechen können, doch das erschien allen zu vertraulich. Und sie Fräulein Bofrost zu nennen, nach der bekannten Tiefkühldynastie, aus der sie stammte, wirkte auch irgendwie falsch…